Ein Loch ist im Land – Josh Brolin glänzt im Mystery-Western „Outer Range“
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Ein Loch ist im Land: Rancher Royal Abbott (Josh Brolin) kann’s nicht fassen. Szene aus der Serie „Outer Range“.
© Quelle: AP
Plötzlich geschieht etwas Unwirkliches, etwas das nie hätte passieren dürfen. Und die Leute müssen damit klarkommen. So ist das in den guten Mysteryserien wie „Lost“ oder „Dark“ oder (ein Tipp für alle, denen sich gar nicht genug Fragezeichen im Brägen formen können) „The Leftovers“, wo sich ein merklicher Teil der Menschheit von einem Augenblick auf den anderen in Nichts auflöst. Und ein Gutteil der Übergebliebenen sich äußerst seltsam verhält. Das Wort Kettenrauchen bekam in jener Serie bei einer Gruppe, die zudem ein Schweigegelübde abgelegt hat, eine völlig neue Dimension.
Josh Brolins Stimme klingt in „Outer Range“, als hätte er bei den weißgewandeten „Leftovers“-Schmölkern abends die meisten Kippen im Aschenbecher gehabt. Und weit entfernt von einem Schweigegelübde ist sein einsilbiger Royal Abbott auch nicht. Mit seiner Frau Cecilia (Lili Taylor), den Söhnen Rhett (Lewis Pullmann) und Perry (Tom Pelphrey) sowie seiner Enkelin Amy (Olive Abercrombie) lebt er auf der Abbott-Ranch.
Rancher Royal hat genug Sorgen - er braucht nichts Übernatürliches
Und die Familie hat es nicht leicht. Vor neun Monaten ist Royals Schwiegertochter, Perrys Frau Rebecca, verschwunden. Und dann ist da noch der Streit mit dem alten Tillerson (großartig: Will Patton). Der Rancher von gegenüber macht Anspruch geltend auf 600 Acres Land der Abbotts, das sind 243 Hektar (mal 10.000 genommen ergibt das eine Summe von Quadratmetern, um die man in Wyoming nicht nur in den Zeiten von Cat Ballou bis aufs Blut kämpfte). Und dann ist da plötzlich das Loch da. Riesig, abgezirkelt. Das Unwirkliche.
Es liegt mitten im hunderprozentig Wirklichen. Wo man sich morgens Eier in die Pfanne haut, tagsüber Zäune flickt, mit dem Feldstecher die Herde abcheckt, sich sonntagmorgens für die Kirche fein macht und abends dem Sohn Rhett zuschaut, wie er beim Rodeo von einem Bullen fliegt.
Seltsame Geräusche sind zu hören, bevor das Loch im Land erscheint
Es hat sich angekündigt. Eines Tages liegen seltsame Geräusche in der Luft. Ein Schwirren wie von Ufos, ein fremdweltiges Gähnen, als würde der Chef der Titanen persönlich erwachen (von jenem Kronos war zu Beginn der Serie auch die Rede). Vogelschwärme fliegen in der Abenddämmerung auf. Am anderen Morgen erscheint eine bildhübsche und bald schon sehr geheimnisvolle junge Frau namens Autumn (Imogen Poots) auf, ein „Hippie“, die auf Abbotts Land zelten möchte.
Und dann entdeckt Josh auf einem Ausritt das Loch auf der Weide. Man kann’s nicht zuschaufeln und auch keine Folie drüberziehen. Royal verrät erst mal niemandem etwas davon, was Schweigen-ist-Gold-Cowboys wie ihm nicht so schwerfällt.
In „Outer Range“ trifft „Twin Peaks“ auf „Yellowstone“
Pferde scheuen vor dem Phänomen (nie ein gutes Zeichen) und plötzlich ist die Atmosphäre dieser Neowesternserie ein wenig wie „Twin Peaks“ (immer noch die Königsserie für Fragezeichen-Liebhaber) trifft auf „Yellowstone“ (mit Kevin Costner, Neowestern ohne Unwirkliches, unbedingt ausprobieren!). Da verschwindet mal für Augenblicke ein ganzes Bergmassiv, und da steht plötzlich ein von zwei indianischen Pfeile gespickter Bisonbulle mit rasselndem Atem in der Prärie wie das Mahnmal der untergegangenen First-Nations-Welt. Und. Und. Und.
Das Unwirkliche ist wie das mythische Loch, das bei den alten Griechen Kronos schuf, um das Bekannte vom Unbekannten zu trennen. Als Royals Ältester Perry in einem Streit hinter der Kneipe versehentlich den Tillerson-Sohn Trevor erschlägt, lässt Papa Royal die Leiche prompt reinplumpsen.
Als Grab will das Loch nicht funktionieren
Passt jetzt prima, dass es zufällig da ist, nur leider funktioniert es nicht als Grab. By the Way: Kronos hat Kinder gefressen, dafür ist er heute hauptsächlich bekannt. Aber nur die eigenen, keine fremden, und so stecken die Abbotts bald in einem fürstlichen Schlamassel, der die Familie auseinanderzureißen droht – und die Familie ist ja bekanntermaßen das Beste, was die amerikanischen TV-Landeier seit „Lassie“ haben.
Das Ensemble ist gut, aber für Josh Brolin (zuletzt im Sci-Fi-Epos „Dune“ zu sehen und fast unkenntlich als Thanos in „Avengers“-Filmen) ist der Rancher Royal eine Rolle nach Maß. Western liegen dem Sohn von James Brolin, der schon 1989 in der Serie „Young Riders“ für den Pony-Express in den Sattel stieg, der 2007 mit dem Neowestern „No Country for Old Men“ der Coen-Brüder zum Star wurde und der auch in deren Remake von „True Grit“ (2010) dabei war (da hatte allerdings Jeff Bridges die coolsten Einzeiler respektive Einsilber).
Die Sache mit Gott hat Royal Abbott aufgegeben
Hier ist er ein Cowboy, der mit Mystery dealen muss, wo er doch schon mit Gott und dem Teufel abgeschlossen hat, dem eigentlich einzigen Unwirklichen, das es sonst im Westernkosmos gibt. In der Kirchenbank sitzt er jetzt hinten und wenn die Enkelin Gott beim Gebet bittet, Mami zurückzubringen, bricht es ihm das Herz. Selbst das FBI hat die Sache aufgegeben und die indianische Sheriffin Hawk (Tamara Podemski) ist bald schon mehr mit dem Verschwinden von Trevor befasst. Die Wiederwahl steht an, und der Konkurrent schläft nicht.
Man darf nicht darauf hoffen, dass man aus der ersten Staffel von „Outer Range“ mit einem „Aha, so ist das also“-Gefühl rausgeht. Nach einem aparten Mix aus Marlboro-Country-Postkarten, Familiendrama und gruseligen Momenten (dazu gehört auch die grandiose Szenen abwerfende Neigung der Tillerson-Rivalen, in extremen Momenten des Lebens zu singen – und zwar Burl-Ives-Countrysongs ebenso wie Peter-Gabriel-Balladen) behält die Mysteryserie des Newcomers Brian Watkins und der Brad-Pitt-Firma Plan B Entertainment wie im Genre üblich und nötig ihre Rätsel weitgehend für sich.
Brolin freut sich jedenfalls nach eigenem Bekunden darauf, den Stetson von Royal Abbott weiter aufzusetzen, den schweren Blick weiterhin in den Himmel von Wyoming zu werfen und Vieh über seinen von unerfindlichen Kräften versehrten Grund und Boden zu treiben. Das Fantastische harmoniert nicht zum ersten Mal bestens mit der Welt der rauchenden Colts, davon zeugen Serien wie „Der Mandalorian“ (seit 2019) und Filme wie „Bone Tomahawk“ (2015).
Durch manche Plotlöcher könnte man Brote werfen
Überallhin könne die Reise nun gehen, so war von Brolin zu hören. Wir stehen bei Kronos’ Loch eindeutig auf der Seite des Unbekannten. Schenken wir dem Gott der Zeit ein paar unserer Stunden, um es zu erkunden.
Freilich: Wenn das jetzt keine zweite Staffel abwirft, und noch ist diese nicht versprochen, wäre man als Zuschauer gelackmeiert. Aber eigentlich müsste das Risiko einer solchen Geschichte mit genug Applaus belohnt werden. Auch wenn manche Löcher im Plot zwar nicht unbedingt so groß sind wie das unglaubwürdigerweise lange von kaum jemandem sonst bemerkte auf der Wiese, man aber doch Brote durchwerfen kann.
„Outer Range“, Serie, erste Staffel, acht Episoden, von Brian Watkins, mit Josh Brolin, Lili Taylor, Imogen Poots, Will Patton, Tamara Podemski (streambar bei Amazon Prime Video)