„Angry German Kid“: Wie ein Internetvideo das Leben eines Teenagers zerstörte
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Das "Angry German Kid" war in den 2000er Jahren eine Internet-Sensation. Was macht der Junge heute?
© Quelle: RND
Hannover. Wir schreiben das Jahr 2006. Facebook kennt noch kaum jemand, Twitter befindet sich gerade erst in der Gründung, das erste iPhone wird erst ein Jahr später vorgestellt – und Youtube feiert seinen ersten Geburtstag.
Die Videos auf der Plattform sind wegen der begrenzten technischen Möglichkeiten noch ziemlich unscharf, verwackelt, quadratisch. Doch eines gibt es auch schon 2006: virale Internetvideos. Eines davon ist das sogenannte „Angry German Kid“.
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Die Ikone der Internetmemes
In einem etwa fünfminütigen Clip ist ein blonder Junge mit Brille zu sehen – offenbar in seinem Kinderzimmer. Er hämmert auf seine Tastatur und brüllt seinen Computermonitor an: „Maaan, mach hinne! Ich will ‚Unreal Tournament‘ spielen!“
Dann eskaliert die Situation: Der Junge schlägt so hart auf seine Tastatur ein, dass mehrere Tasten herausfliegen und sie schließlich endgültig vom Tisch fliegt. Das Video endet in enormem Gebrüll.
Das „Angry German Kid“ steht beinahe ikonisch für die ersten Internetmemes der 2000er-Jahre. Damals, als Messenger noch nicht Whatsapp, sondern ICQ hießen, hatte fast jeder Millennial mit Internetzugang mal den brüllenden „Unreal Tournament“-Jungen in seiner Inbox.
Doch welche Geschichte steckt hinter dem „Angry German Kid“ – und was macht der Junge heute? So viel vorab: Die Geschichte ist tragischer, als man zunächst denkt.
Alles fing mit einem Experiment an
Hinter dem „Angry German Kid“ steckt ein Youtuber, der sich 2006 „Slikk“ nennt. In einem Beitrag seines Blogs „Hodenmumps“ erklärt der Teenager damals: „Zu meinem 13. Geburtstag habe ich einen ziemlich teuren Camcorder bekommen. Ich habe mich nur noch mit ihm beschäftigt. Ich drehte alles Mögliche. Als mir langweilig war, drückte ich Record und redete irgendeinen Unsinn in die Kamera und experimentierte.“
Das berühmte Brüllvideo ist Teil dieses Experiments. Laut „Slikk“ sei es einfach „durch Langeweile und Spaß an der Kamera entstanden“.
Dass das „Angry German Kid“ gar nicht echt ist, sondern eine fiktive Comedyfigur, wissen allerdings die wenigsten Youtube-Nutzer. Und der Grund dafür ist ausgerechnet ein TV-Beitrag im klassischen Fernsehen.
Schlampige Recherche bei „Focus TV“
Es ist der 20. November 2006, als der 18-jährige Sebastian B. schwer bewaffnet seine ehemalige Schule in Emsdetten stürmt und um sich schießt. Bei dem Amoklauf verletzt B. 36 Personen und erschießt sich anschließend selbst.
Politik und Medien wollen nach dem schrecklichen Amoklauf eine Antwort finden – und haben schnell eine: Die sogenannten „Killerspiele“ sollen schuld an dem Vorfall sein. Gleich mehrere Zeitungs- und TV-Berichte nähern sich dem Phänomen. Die „Bild“-Zeitung beispielsweise titelt: „Machen solche Spiele Kinder zu Killern?“
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Auch die Redaktion von „Focus TV“ will den umstrittenen „Killerspielen“ näher auf den Grund gehen. Also recherchiert sie auf Youtube – und findet das Video des „Angry German Kid“, das sich seit ein paar Monaten über die Plattform verbreitet.
In dem Beitrag wird das Video des brüllenden Jungen gezeigt. Der Junge wird als „Leopold“ vorgestellt – und als computerspielabhängiger 14-Jähriger. Die Aufnahmen habe dessen Vater heimlich gemacht. „Das Problem: Leopold kommt bei seinem Lieblingsballerspiel nicht online“, heißt es in der Reportage.
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Unzählige Remixe des „Angry German Kid“
Spätestens hier beginnt die Karriere des ungewöhnlichen Youtube-Videos. Nach der Ausstrahlung des TV-Beitrags wird das Video immer bekannter. Und aus der fiktiven Gamerfigur von „Slikk“ wird plötzlich Leopold – ein vermeintlich echter, computerspielsüchtiger und hoffnungsloser Teenie.
Auch international verbreitet sich der Clip: Das Video wird unzählige Male gerippt und erneut hochgeladen. Es wird mit der Zeit zu einem der populärsten Videos auf Youtube. Kaum jemand kennt noch die Originalquelle und den Kontext – und alle machen sich über den Teenager lustig.
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Zudem gibt es nach einiger Zeit unzählige Remixe des Videos – später etabliert der Clip ein sogar ein völlig eigenständiges Genre: Englischsprachige Youtube-Nutzer geben dem deutschsprachigen Video verschiedene witzige Untertitel und führen den ohnehin schon verstörenden Clip nochmals ad absurdum.
Für Youtuber „Slikk“ fangen zu diesem Zeitpunkt die Probleme an. Er stoppt den Upload von neuen Youtube-Videos auf seinem Kanal – und taucht mehrere Jahre unter. Erst im vergangenen Jahr meldet er sich mit einem neuen Youtube-Kanal zurück: AGK Hercules. Hier erzählt er seine bewegende Geschichte.
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„Und dann bin ich verrückt geworden“
„Dieses Video hat mich berühmt gemacht“, erklärt „Hercules“ in einem englischsprachigen Video. „Jeder in der Schule kannte mich.“ Doch ein Jahr später sei ihm sein unfreiwilliger Ruhm zu viel geworden. „Ich hatte keine Lust mehr auf die Scheiße. Ich habe mir die Haare schwarz gefärbt, meine Brille weggeworfen und Kontaktlinsen angeschafft“, erklärt er. „Damit mich niemand mehr erkennt.“
Doch all das half nichts. Es folgten drei weitere Jahre „Psychoterror“, wie er erklärt. Und dann sei er „verrückt geworden“: „Ich wollte, dass die Leute Angst vor mir haben.“ Also habe er angefangen, seine Klassenkameraden einzuschüchtern, und betrunken einen möglichen Amoklauf angekündigt. Die Folge: „Herkules“ flog von seiner Schule und bekam eine Strafe. Weil er diese nicht ableisten wollte, verbrachte er einen Monat im Knast.
Diese Situation habe seine Zukunft enorm belastet. „Ich habe einen Job gesucht und keinen gefunden. Jeder kannte mich als den Verrückten aus der Schule – oder eben als das ‚Angry German Kid‘.“
Heute macht „Herkules“ Hip-Hop
Zwei Jahre lang habe er daraufhin Zeit mit Bodybuilding verbracht – bis er dann endlich einen Ausbildungsplatz bekam. „Aus einem Horrorleben, das schlichtweg nicht lebenswert war, wurde endlich ein schönes Leben“, erklärt er. „Ich habe neue Leute kennengelernt, wir gehen jedes Wochenende Party machen. Außerdem habe ich meine Freundin kennengelernt.“
Inzwischen ist „Herkules“ alias „Slikk“ wieder auf Youtube aktiv. Hier lädt er Musikvideos und eigene Hip-Hop-Songs hoch.
Das Erklärvideo mit seiner Geschichte hat seit April 2018 rund 155.000 Aufrufe gesammelt. Das ist viel – dennoch dürften die allermeisten nie von seiner Geschichte erfahren.
Noch immer sind verschiedene Varianten des „Angry German Kid“-Videos auf Youtube online. Sie alle zusammen haben mehr als zehn Millionen Aufrufe.
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