Freundschaft unter Autisten: Amazons Feelgoodserie „As We See It“
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Aus WG-Bewohnern werden Freunde: Harrison (Albert Rutecki, v.l.), Jack (Rick Glossman) und Violet (Sue Ann Pien) schauen sich gemeinsam einen Pornofilm an.
© Quelle: Ali Goldstein / © 2021 Amazon Content Services LLC
Der Mensch, mit dem die ganze Welt von der breit gefächerten Entwicklungsstörung Autismus erfuhr und sich anrühren ließ, war Charlie Babbit. Als der Film „Rain Man“ 1988 ins Kino kam, eine klassische Dramedy, war Dustin Hoffman auf der Höhe seines Ruhms, und der junge Tom Cruise sprang mit diesem Film aus der Sonnyboy-Falle. Auf dem Fuß folgten dem Film kritische Stimmen, dass Autisten in Wahrheit ja ganz anders seien als jener Charlie.
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Und als Hoffman auch noch den Hauptdarsteller-Oscar erhielt, wussten Lästermäuler, dass man sich für einen Academy Award offenbar nur um Kranken- oder Behindertenrollen kümmern müsse. In den Extras der DVD-Editionen des Films wurde später ausgiebig zum Thema Autismus referiert, wurden Personen des autistischen Spektrums mit ihren Spezialbegabungen gezeigt und wurde dem Betrachter klar, dass Regisseur Barry Levinson und sein Team sehr wohl gute Recherche geleistet hatten. Dass dieses Meisterwerk (vier Oscars, zwei Globes), eine der schönsten Brüdergeschichten des Kinos, seine Zuschauerinnen und Zuschauer in sentimentale Stimmung versetzt, ist sowieso kein Makel. Gefühle zu erzeugen, ist die älteste Aufgabe des Kinos.
Die neue Amazon-Serie „As We See It“, die auf der israelischen Serie „On The Spectrum“ (seit 2018) basiert, zeigt uns ganz ähnliche Charaktere wie Charlie Babbit. Einzelne Szenen mögen komisch sein, der Witz geht indes nie auf Kosten des- oder derjenigen, dessen oder deren Verhalten nicht der Norm entspricht. Wenn der wuschelköpfige autistische Verlagsprogrammierer Jack (Rick Glassman) seinem selbstgefälligen Vorgesetzten bescheidet, er verstehe dessen Borniertheit, schließlich sei er „von minderer Intelligenz“, dann mag der ihn feuern und die Kolleginnen und Kollegen den Kopf darüber schütteln, dass Jack mit der Woody-Allen-Brille sich noch schnell Frühstücksmuffins von jeder Sorte stibitzt („Ich weiß jetzt noch nicht, für welches ich mich nachher entscheiden werde“), aber man will ihn dafür glatt umarmen. So einen Satz würden ja nun nicht wenige auch mal gern in ihrer eigenen Arbeitssituation fallen lassen. Man mag den „direkten“ Jack vom Fleck weg.
Man schließt Jack, Harrison und Violet schnell ins Herz
Und man mag auch Harrison (Albert Rutecki). Der schwergewichtige junge Mann hat ein massives Kontaktproblem. Er traut sich in der ersten Episode erstmals durch die Glastür seiner Wohnstatt auf den Bürgersteig, die telefonische Verbindung zu seiner Betreuerin Mandy (Sosie Bacon aus „Mare of Easttown“, „Here and Now“) gibt ihm die dazu nötige Courage. Warum er denn unbedingt raus müsse, hat er sie zuvor gefragt. Um Dinge zu tun, hat sie ihm geantwortet. Auf morgen wollte er die Aktion erst mal verschieben. Und dann wagt er ihn doch, den gewaltigen Schritt. Mit gesenkten Lidern läuft er los, wird von einem Skater geschnitten und geht dennoch weiter. Wird vom Lärm eines Müllwagens bedrängt und passiert auch diesen. Als ihn dann aber der Husky einer Fremden anbellt, ist es um Harrisons Stabilität geschehen. Er rennt zurück in die Sicherheit seines Heims.
Und man mag Violet (Sue Ann Pien), die Kassenkraft in der Burgerbräterei Arby‘s, die dem Kunden im Holzfällerhemd mit seufzender Stimme „nice eyes“ zu haben bescheinigt. Das ist nur der Auftakt ihrer eigenwilligen Gesprächsanbahnung. Als der sich geschmeichelt fühlende Mann zur Getränkebestellung übergeht, malt Violet sich und ihm die ersten drei Dates aus. „Bei den ersten beiden können wir keinen Sex miteinander haben, aber beim dritten können wir vögeln.“ Der Mann ist perplex, seine Frau stinkwütend. „Sie müssen Sie umgehend feuern“, fordert sie vom Filialleiter. „Danke für Ihre Unterstützung“, ruft Violet den beiden hinterher – völlig freundlich, kein bisschen sarkastisch. Sie will endlich Nähe, Liebe, Sex bekommen – wie alle Menschen. Und sie kann nicht verstehen, ja verzweifelt fast darüber, dass man Zweisamkeit nicht einfach so und völlig unverblümt anleiern kann.
Drei besondere Menschen wollen „normal“ leben
Diese drei bewohnen dieselbe Einrichtung. Sie sind wie Inseln zu Beginn dieser Serie und in ihren Gruppensitzungen ehrlich bis über die Schmerzgrenze hinaus. Jack sagt Harrison, dass er stinke, weil er fett sei und dass er nie einen Job bekommen werde, ohne die Unterstützung seiner reichen Eltern nie ein Bein auf den Boden bekommen würde. Dass er Jack nicht besonders möge, erwidert der schüchterne Harrison, während Violet an kaum etwas anderes denkt, als an das eine und wie sie sich dafür in einer Dating-App ins Zeug legen könne. Sie habe gute Brüste, verkündet sie ihrem darob ziemlich konsternierten Bruder im Auto, sie wolle deshalb Spitzen-BHs. „Ich bin 25. Ich will einen Freund. Ich will normal sein.“
Und das ist auch schon die ganze Geschichte. Drei, die am „Normalen“ partizipieren wollen, aber das nicht anders können als auf ihre Weise, werden zurückgestoßen, verletzt, brüskiert, ausgenutzt - weil die Welt sie nicht versteht, weil ihre nächsten Verwandten sie entweder verstoßen haben (Harrisons Eltern), ihr eigenes Leben haben (Violets Bruder hat eine ziemlich komplizierte Liebesbeziehung) oder aber nicht mehr lange leben werden. Jacks Vater (Joe Montegna) ist an Krebs erkrankt: „Ich kämpfe um mein Leben“, gesteht er seinem zunächst völlig ungerührten Sohn. „Ich muss wissen, dass mit dir alles okay ist.“
Die einzige Person, die wie ein nimmermüder Engel für die drei da ist, die sie berät, die sie umarmt, ihnen die Welt erklärt, ihre unbestechliche Anwältin ist und sich an ihren Erfolgen freut, ist Mandy. Deren Freund möchte nun aber, dass sie mit ihm nach Berkeley zieht. Er verschafft ihr einen Job in der Autismusforschung, den sie eigentlich nicht ablehnen kann. Mandy ahnt natürlich, dass eine Entscheidung für ihre eigene Zukunft ihre Schützlinge, speziell Harrison, in ihrer Entwicklung zurückwerfen würde. Was tun? Drama, Baby!
Showrunner Katims hatte persönliche Gründe für die Serie
Showrunner Jason Katims („Parenthood“) hat selbst einen autistischen Sohn. Was ihn umtrieb, die Serie zu machen, war vor allem die Chancenarmut für autistische Erwachsene auf dem Jobmarkt. Selbst Collegeabsolventen aus dem autistischen Spektrum seien zu 80 Prozent arbeitslos. Diese Ablehnung zu ändern, Verständnis einzuholen, empfand er als eine Mission, als sein eigener Sohn erwachsen wurde. Daneben wollte er dem Publikum der Welt, das seit zwei Jahren in der Enge der Pandemie steckt, wie er in einem Interview erklärte, einfach eine Serie über das freie, schöne, wunderbare Leben geben.
Eine hundertprozentige Feel-good-Geschichte wie „Rain Man“ also – und manches von diesem Erwachen aus der sozialen Starre erscheint (in den fünf zur Sichtung überlassenen Episoden) märchenhaft. Bevor nun aber die Lästermäuler ihre Zungen neuerlich spitzen: Anders als Dustin Hoffman sind die Darsteller von Harrison, Violet und Jack selbst Leute aus dem autistischen Spektrum. Und sie sind unglaublich berührend, wie sie lächeln, lachen, sich sorgen und wie sie mehr und mehr zu Freunden werden. „As We See It“ bringt Freude, bringt Tränen – so weit wir sehen konnten. Zweite Staffel dringend erwünscht.
„As We See It“, Staffel 1 (acht Episoden), von Jason Katims, mit Sosie Bacon, Albert Rutecki, Rick Glassman, Sue Ann Pien, Joe Montegna (ab 21. Januar bei Amazon Prime Video)