Das Böse im Rückspiegel – David E. Kelley thrillt mit der Serie „Big Sky“ bei Disney+
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Drei schalten auf Gegenwehr: Jade Pettyjohn, Jesse James Keitel, Natalie Alyn Lind und Brian Geraghty (v. l.) in einer Szene der Thrillerserie „Big Sky“.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Ein Werweißwievieltonner mit 18 Rädern löst immer unangenehme Gefühle aus, selbst wenn zuweilen fröhliche, auf seinen Flanken aufgedruckte Comicfiguren uns im Vorbeifahren mit der Behauptung locker zu machen versuchen, sie, die „Brummis“ rollten allein für uns, für unsere Versorgung mit Speis und Trank. Die Angst vorm Truck wirkt nicht nur im wahren Leben, nicht nur auf unserer Autobahnfahrt in der kleinen Wenig-PS-Blechdose, während sich im Rückspiegel der nächste Koloss bedrohlich nähert.
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Denn seit Steven Spielbergs frühem TV-Hit „Duell“ (1971) wissen wir, dass auf dem Highway die Hölle los ist, dass in Filmen in diesen gewaltigen Gefährten entfremdete Wesen sitzen können, die aufs Töten aus sind. Die Schwestern Grace (Jade Pettyjohn) und Danielle (Natalie Alyn Lind) ahnen indes nicht, dass sie gerade von einem Frauenhasser von der Straße gedrängt wurden. Sie nehmen die Verfolgung auf, überholen den Laster, brüllen dem Fahrer aus dem geöffneten Fenster zu, er sei ein Loser.
Folie bedeutet in Thrillern nie Gutes
Als ihr Auto später im Yellowstone Nationalpark liegen bleibt, ist klar, wer ihnen „zu Hilfe“ kommen wird. Mit einer brutalen Taser-Attacke bringt Ronald Pergman (Brian Geraghty) die Mädchen in seine Gewalt, wirft sie auf die Ladefläche zu der dort schon halb in Folie eingewickelten Prostituierten Michelle (Jesse James Keitel). Thrillerfans wissen nicht erst seit „Dexter“, der Serie über einen Serienmörder, der Serienmörder mordet: Folie ist nie gut!
So beginnt die Serie „Big Sky“ nach dem – bislang noch nicht ins Deutsche übersetzten – Roman „The Highway“ des amerikanischen Thrillerautors C. J. Box. Die beiden Mädchen haben freilich eine reelle Überlebenschance – sie sind schließlich Freundinnen des Sohnes von Privatdetektiv Ex-Cop Cody Holt (Ryan Phillippe) und seiner Frau (ebenfalls eine frühere Polizistin) Jenny (Katheryn Winnick). Cody ist nach einer Affäre mit seiner Kollegin Cassie Dewell (Kylie Bunbury) gerade dabei, seine Ehe erotisch zu kitten, als ihn der Anruf des beunruhigten Sohnes erreicht.
Und so machen sich Cody, Cassie und Jenny auf die Suche nach den Verschwundenen und erkennen bald, dass bereits sehr viele Frauen in der Umgebung verschütt gingen – in einem 100-Meilen-Radius binnen zweier Jahre, zuletzt gesehen meist in der Nähe von Truck Stops. Der Fall ist viele Fälle – ein Abgrund.
Box‘ Buchheldin ist Cassie, was man in dem von dem schottischen Regisseur Paul McGuigan („Lucky Number Slevin“, vier „Sherlock“-Episoden) inszenierten Pilotfilm der Serie erst mal nicht vermuten würde. In den beiden ersten den Medien zur Sichtung überlassenen Episoden (von insgesamt 16) hat Bunbury kaum mehr Bildschirmzeit als die Hoyts, gerät in eine handfeste Prügelei mit ihrer Konkurrentin (man muss zweimal hinschauen, um in Katheryn Winnick die ikonische „Vikings“-Schildmaid Lagertha zu erkennen) und muss sich von dem allzu freundlichen Montana State Trooper Rick Legarski (John Carroll Lynch) vorgeblich tapsige Frauenfeindlichkeit und einen Rassismus der Komplimente gefallen lassen. Sonst nichts. Wir erwarten, dass Cassie in einer der darauffolgenden Episoden die Kontrolle übernimmt.
Man erwartet von David E. Kelley nur Gutes
Nichts, bis auf einen wahrhaft umwerfenden Überraschungsmoment in der ersten Folge, würde darauf schließen lassen, dass bei der wie der grandiose Westernklassiker „The Big Sky“ (1952) von Howard Hawks (in dem – wohl die einzige Parallele – auch eine Frau entführt wird) benannten Serie der ruhmreiche David E. Kelley die Fäden zieht. Der 64-jährige Ehemann von Michelle Pfeiffer steht seit den Achtzigerjahren für viele Serienhits und hatte zuletzt für HBO mit „Big Little Lies“ (Regie der ersten Staffel Jean-Marc Vallée) und „The Undoing“ (Regie: Susanne Bier) zwei der subtilsten Thrillerserien der vergangenen Jahre verantwortet.
So nimmt man nun zu Kelleys Gunsten an, er wolle den Zuschauer mit den Auftaktfolgen noch etwas kitzeln, gar in die Irre führen, um danach wie gewohnt zu glänzen. Schlau wäre diese Taktik aber nicht bei einem Publikumsgros, das heutzutage bereits in den ersten 20 Minuten darüber entscheidet, ob es einer Serie seine Zeit und Gunst schenkt.
Vielleicht wird ja auch das falsche Publikum angezogen. Denn in der ersten Folge erscheint „Big Sky“ als Schlitzergeschichte, als Slasher Movie für Leute mit Rachefantasien gegenüber Frauen. Alles hier ist erst mal ganz einfach: Der Killer wird tagein, tagaus von einer dominanten Mutter gegängelt und verspottet. Nachts steht er mordbereit an ihrem Bett, um dann doch kuschelnd unter ihre Decke zu schlüpfen. Ein Verlierer sei er, ohne tollen Job, ohne tolle Frau – damit könne man bei den Freundinnen nicht punkten, schilt ihn die Mama.
Auch Pergmans Helfer wird von seiner Ehefrau drangsaliert. Die will sich von ihm nicht „Mutter“ nennen lassen, möchte von ihm berührt werden „wie ein Ehemann seine Frau berührt“. „Hast du eine Frau, hast du Probleme“, ist sein Credo. Und so ziehen die beiden problemlösend gegen die Schönheit und die Anmut zu Felde. Sie hassen, demütigen, verkaufen Frauen in die Sklaverei der Prostitution. Ob sie noch weitergehen und morden? Fortsetzung folgt.
Ryan Phillippe spielt mehr schlecht als recht einen unsympathischen Frauenhelden
Ryan Phillippe – unvergesslich seit seinem Auftritt als junger, gedankenvoller, schlussendlich doch rassistischer Cop in Paul Haggis‘ Regiedebüt „L. A. Crash“ (2004) – spielt als Cody Holt hier mehr schlecht als recht den unerquicklichen Womanizer, der glaubt, Seitensprünge seien mit einem gebrummelten Halbsatz und ein paar Streicheleinheiten aus der Welt zu schaffen, und der Frauenlob für seinen Sex mit einem dämlichen Grinsen quittiert. Geht gar nicht.
In der zweiten Folge bekommt die Frauenfeindlichkeit indes ein Gegengewicht. Die Opfer gehen zur Attacke über, verunsichern ihren Peiniger, lassen Stockholm-Syndrom-artige Vertraulichkeiten des Kerls nicht gelten: „Du willst ein Monster sein. Dann sei eins!“, schreit Grace. Folgt jetzt etwa ein „Thelma & Louise“-artiger Racheakt auf den „Schweigen der Lämmer“-Start? Wäre die Serie vielleicht etwas Besonderes, wenn man ganz auf den Cop-Teil der Handlung verzichtet hätte? Wie Annie Lennox von den Eurythmics mit Soulkönigin Aretha Franklin sang: „Sisters are doing it for themselves …“
Oh, wie schön ist Montana!
Apropos: Die übermäßig eingesetzten Popsongs kommen meist als Winke mit dem Zaunpfahl: Geht es um die Beziehungskisten, rocken entweder die Rolling Stones das ernüchterte „It’s All Over Now“ oder eine Kneipenchanteuse schmachtet Tammy Wynettes Falsche-Treue-Countryschocker „Stand by Your Man“. Und im Führerhaus des Entführertrucks knarrt dann Johnny Cash den „Folsom Prison Blues“, der mit der bösen Zeile „Ich schoss in Reno auf einen Mann / nur weil ich ihn sterben sehen wollte“ Musikgeschichte schrieb. Guter Song – eigentlich. Aber hier? Echt jetzt?
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Immer wieder wird von der „Pandemie“ gesprochen, „Big Sky“ entstand, als Corona die Welt schon im Griff hatte, und dass die Menschen von Montana weder Mund-Nasen-Schutz tragen, noch Distanz zueinander wahren, sich also ganz anders verhalten, als wir es seit nunmehr einem Jahr kennen, liegt wohl an den damals recht laxen (inzwischen deutlich schärferen) Corona-Vorgaben im „Staat der (Boden-)Schätze“. Man denkt bei all den maskenfreien Gesichtern unweigerlich an Trumps gesundheitspolitisches Irrlichtern.
Montana immerhin ist eine Pracht. Der Hamburger Oliver Bokelberg („Tatort“, „Station Agent“) lässt seine Kamera über die Wälder und Flussbiegungen schweifen, zeigt Sonnenuntergänge und andere Postkarten, die einen – das hat man lange nicht mehr getan – von kommenden Amerikaurlauben träumen lassen. Irgendwann, wenn die Welt durchgeimpft ist.
„Big Sky, Staffel 1“, bei Disney+, 16 Episoden, von David E. Kelley, mit Kylie Bunbury, Katheryn Winnick, Ryan Phillippe (ab 23. Februar)