Dieter Nuhr und die Empörung: Was ist eigentlich Cancel Culture?

Der Kabarettist Dieter Nuhr.

Der Kabarettist Dieter Nuhr.

Hannover. Wer in den vergangenen Tagen und Wochen die ein oder andere hitzige Netzdebatte verfolgt hat, dem dürfte dabei ein neuer Kampfbegriff untergekommen sein: Cancel Culture. Zuletzt beispielsweise, als es um den Kabarettisten Dieter Nuhr ging. Dieser hatte sich darüber beschwert, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft nach Protesten in sozialen Medien einen seiner Beiträge von der Seite entfernt hatte.

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Nuhr sagte daraufhin der Zeitung “Welt”: “Es gibt weltweit – Stichwort Cancel Culture – zunehmend mächtiger werdende Versuche, kritische Stimmen mundtot zu machen. Die DFG hat sich dem nun angeschlossen. Das ist sehr bedenklich.” Die Forschungsgemeinschaft entschuldigte sich daraufhin bei Nuhr und erklärte den Fall auf ihrer Website.

Auch im Zusammenhang mit der “Harry Potter”-Autorin J. K. Rowling tauchte der Begriff kürzlich auf. Die Autorin war wegen transphober Tweets in die Kritik geraten, daraufhin hatten unzählige Nutzer in den sozialen Netzwerken gegen Rowling protestiert und teils zum Boykott ihrer Bücher aufgerufen. Kritiker bezeichnen auch das als einen Fall von Cancel Culture.

Aber was genau soll der Begriff bedeuten? Und woher kommt er?

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Die Ursprünge des Kampfbegriffs

Glaubt man der Plattform Dictionary.com, so tauchte das Wort “canceln” Mitte der 2010er-Jahre erstmals in diesem Zusammenhang im angelsächsischen Raum auf. Seinen Ursprung hat es offenbar bei schwarzen Twitter-Nutzern, die damit begannen, die Arbeit von Prominenten öffentlich zu boykottieren (also: zu “canceln”), weil sie sich rassistisch geäußert hatten. Betroffen waren davon in einem ersten Fall etwa Taylor Swift oder Ed Sheeran.

Zur selben Zeit tauchte der Begriff auch im Zusammenhang mit der #MeToo-Bewegung auf – Prominente wie etwa Harvey Weinstein, Matt Lauer, Louis C. K. oder R. Kelly wurden von Twitter-Nutzern wegen ihrer Vergehen “gecancelt” – andere Prominente wiederum wegen ihrer LGBT-feindlichen Einstellung.

Gerade im Bezug auf #MeToo hatte das öffentliche Absägen von Prominenten tatsächlich weitreichende Auswirkungen. Viele der Akteure verschwanden nach Bekanntwerden der Fälle vollständig von der Bildfläche und bekamen auch nie wieder einen Fuß in die Tür – was nicht zuletzt auch mit dem massiven Protest in den sozialen Medien zu tun haben dürfte.

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Eine Gegenbewegung ensteht

Im Laufe des Jahres 2019 bildete sich jedoch allmählich eine Gegenbewegung zum öffentlichen “Canceln” von Künstlern und ihren Werken. Im Frühjahr 2019 wird dabei auch erstmals der Begriff Cancel Culture verwendet. Die Influencerin @hello_october_ schrieb im März 2019 beispielsweise: “Ich habe diese Cancel Culture und das Drama wirklich satt. Und die Leute, die ständig Stellung beziehen oder zu absolut allem eine Erklärung abgeben müssen. Es ist in Ordnung, aufgeschlossen zu sein und sich eine Sekunde zurückzulehnen, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln, bevor Sie eine Meinung zu etwas abgeben.”

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Andere kritisierten, dass man sich beim “Canceln” vor allem darauf konzentriere, das Leben anderer Leute zu zerstören, weil diese vor etlichen Jahren mal einen Fehler begangen hätten. Eine zweite Chance würden sie dabei nicht bekommen, während in den sozialen Netzwerken immer höhere Standards von politischer Korrektheit herrschen würden. Auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama kritisierte die Praktiken, ohne jedoch explizit den Begriff Cancel Culture zu nennen. Er argumentierte, dass einfache Urteile in den sozialen Netzwerken keinen echten Aktivismus darstellten.

Zusammengefasst ist der Begriff Cancel Culture also grundsätzlich negativ konnotiert. Er beschreibt das angeblich übertriebene Aufschreien einer vermeintlich linken Internetblase, die sich immer dann auf jemanden stürzt, wenn dieser ihrer Ansicht nach nicht politisch korrekt genug ist. Immer mit dem Ziel, seine Filme, seine Musik, seine Produkte zu verbannen, seine Wortbeiträge zu verhindern oder gleich seine ganze Karriere zu zerstören.

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Black Lives Matter befeuert Debatte

Im deutschen Sprachraum war der Begriff Cancel Culture lange Zeit eher unbekannt – derartige Entrüstungsstürme wurden jedoch auch zuvor schon kritisiert. Im Netz hatte sich beispielsweise in den vergangenen Jahren der Begriff “Pomo” oder auch “Pomo-Bubble” etabliert. Die Abkürzung von “Postmodern” beschreibt eine toxische Twitter-Subkultur, die sich bei jedem noch so politisch inkorrekten Verhalten auf ihre Gegner stürzt. Auch hier wurde seinerzeit schon das Beispiel J. K. Rowling genannt.

Auch in der Offlinewelt gab es Fälle des Cancellings, auch wenn diese nie so genannt wurden. Dazu dürfte unter anderem der Fall um den ehemaligen AfD-Politiker Bernd Lucke an der Universität Hamburg zählen. Lucke hatte wegen massiver Proteste im Oktober 2019 seine Vorlesung nicht halten können. Im gleichen Monat verhinderten linke Demonstrierende eine Lesung Thomas de Maizières beim Göttinger Literaturherbst.

Der Begriff Cancel Culture dürfte in Deutschland wohl erstmals im Frühsommer aufgetaucht sein. Im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste hatte US-Präsident Donald Trump gegen die vermeintliche Cancel Culture gepoltert und sie als “Totalitarismus” bezeichnet. Auch das Anschwärzen von vermeintlich rassistischen Personen oder Unternehmen, das Stürzen von Kolonialdenkmälern oder das Umschneiden von Kinofilmen mit rassistischen Inhalten wurde von Kritikern als Cancel Culture empfunden.

J. K. Rowling unterzeichnet offenen Brief

Wenige Wochen später sorgten Querelen in der Redaktion der “New York Times” für ein internationales Medienecho. Die Redakteurin Bari Weiss hatte mit einem aufsehenerregenden Schreiben ihren Abschied aus der Redaktion verkündet und der Zeitung vorgeworfen, konservative Stimmen zu unterdrücken. Vorausgegangen war der Rauswurf des Meinungschefs James Bennet, nachdem in dem Blatt der Kommentar eines Trump-Verfechters erschienen war.

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Im US-amerikanischen “Harper’s Magazine” erschien etwa zur selben Zeit ein offener Brief von 150 Prominenten, die darin ein “Klima der Intoleranz” bemängelten und mehr Liberalismus in Debatten forderten. Sie seien zwar für Gleichstellung und Inklusion, sähen aber eine Einengung von “freiem Austausch von Informationen und Ideen”. Zu den Unterzeichnerinnen gehört auch die “Harry Potter”-Autorin J. K. Rowling.

An dem Brief in dem US-Magazin regte sich später harsche Kritik. Der Historiker Benjamin E. Park schrieb beispielsweise auf Twitter: “Meine unmittelbare Reaktion auf den ‘Harper’s’-Brief war, mich an die vielen Studien zu erinnern, die darlegen, wie privilegierte Stimmen immer das Ausmaß überschätzen, in dem marginalisierte Stimmen einen Diskurs dominieren.” Richard Kim von der “Huffpost” kommentierte den Brief als “albernes, selbstgefälliges Gefasel”.

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Warum der Begriff Cancel Culture in der Kritik steht

Und damit wären wir auch beim Hauptkritikpunkt des Kampfbegriffs. Denn die Prominenten, die sich so ausgiebig über die vermeintliche Cancel Culture oder die Einschränkung der Meinungsfreiheit empören, befinden sich in den seltensten Fällen tatsächlich in einer Opferrolle. Das dürfte für J. K. Rowling gleichermaßen gelten wie für Dieter Nuhr. Im Gegenteil: Die meisten von ihnen verfügen über riesige Reichweiten, was für ihre Kritiker nicht gelten dürfte.

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Trotzdem empfinden sie offenbar den Protest im Netz als hochbedrohlich. Nuhr nennt seine Kritiker beispielsweise “Krawallmacher” – die Deutsche Forschungsgemeinschaft würde sich diesen “unterwerfen”, sagte er der “Welt”.

Hinzu kommt, dass Populisten und Machthaber wie etwa Donald Trump das Fenster der Meinungsfreiheit in den vergangenen Jahren eher gedehnt als verkleinert haben dürften. Der Jurist und ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich kommentierte den “Harper’s”-Brief mit folgenden Worten: “Ich habe mich geweigert, den Brief zu unterschreiben, weil Trumpismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus in den vergangenen Jahren einen so freien und bösartigen Einfluss hatten, dass wir den Ausdruck von Wut und Herzschmerz, der endlich gehört wird, ehren und respektieren sollten.”

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