Reportageformate bei Funk: das große Fest der Einzelschicksale

Das öffentlich-rechtliche Jugendangebot Funk hat zahlreiche Reportageformate im Repertoire – viele ähneln sich.

Das öffentlich-rechtliche Jugendangebot Funk hat zahlreiche Reportageformate im Repertoire – viele ähneln sich.

Hannover. Seit 2016 macht das öffentlich-rechtliche Angebot Funk Programm für junge Leute im Netz. Mit dabei: zahlreiche Reportageformate, einige von ihnen sind preisgekrönt. „STRG-F“ beispielsweise, eine Reportagereihe, die von der NDR-„Panorama”‑Redaktion produziert wird, gewann im Jahr 2020 den Grimme Online Award. Auf Youtube folgen dem Format knapp 800.000 Menschen.

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Zu sehen sind bei „STRG-F“ aufwendig produzierte und teilweise investigative Recherchen: „Querdenker: Wie radikal machen Youtube, Telegram und Co.?” beispielsweise. Auch Reportagen über die „Nazi-Mafia”, Betrugsmaschen auf Ebay, Spanner auf Festivaltoiletten oder Undercoverrecherchen bei Lieferdiensten gehören zum Repertoire von STRG-F. Teilweise erreichen die einzelnen Filme mehr als eine Million Aufrufe auf Youtube.

Auch das „Y-Kollektiv” liefert solche Reportagen. Die aktuellste beispielsweise widmet sich der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Sie wirft einen jungen Blick auf die Ereignisse. Die Reporterin Carolin von der Groeben, Tochter der Nachrichtensprecherin Ulrike von der Groeben, spricht mit Betroffenen und Helfern und packt im Katastrophengebiet selbst mit an. Andere Themen: Corona und die Reisebranche, Gewalt gegen Männer, Deutschlands illegale Müllhalden. Fast eine Million Menschen folgen dem „Y-Kollektiv“ auf Youtube.

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Voyeurismus statt Journalismus

An dieser Stelle könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein, denn in puncto Reportagen und Journalismus leistet das öffentlich-rechtliche Jugendnetzwerk herausragende Arbeit. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn zu den beiden aufwendig produzierten Formaten gesellt sich gleich ein ganzer Berg von Formaten, die zwar den Namen „Reportage” tragen, aber eigentlich keine sind. Oder keine mehr sind.

Gleich sechs Sendungen hat Funk im Angebot, die mehr oder weniger dieselben Inhalte liefern – und zwar am laufenden Band. Man kann diese Inhalte grob mit „Porträts” überschreiben, oftmals sind es jedoch vor allem Einzelschicksale. Böse formuliert könnte man sagen: Bei den Reportagen handelt es sich eher um Voyeurismus als um Journalismus.

Die Filme laufen meistens so ab: Eine Reporterin oder ein Reporter besucht eine Privatperson mit einer besonderen Geschichte zu Hause, ist ganz erstaunt und fährt dann wieder heim. Nur selten kommt in diesen Formaten noch eine dritte Person zu Wort, etwa eine Expertin oder ein Experte, der das Gesehene einordnet. Noch seltener wird das Thema tiefer recherchiert. Konstruktive Ansätze in diesen Reportagen sind rar. Häufig wird das junge Publikum mit dem Erzählten gänzlich alleine gelassen.

Übersinnliches ohne Einordnung

Die Formate tragen Namen wie „Die Frage”, „Tru Doku”, „Follower me Reports” oder „Reporter”. Auch „Leeroy will’s wissen” oder „Auf Klo” kann man zu diesen Formaten zählen – diese sind jedoch weniger als Reportage angelegt, sondern vielmehr als Interviewformat. Bei „Auf Klo” etwa werden Gäste nicht zu Hause besucht, sondern in einer Toilettenkulisse empfangen.

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Die Inhalte allerdings sind immer dieselben: In der aktuellsten Folge von „Die Frage” wird etwa eine junge Frau vorgestellt, die ihren Vater verloren hat und dann von einer Reporterin zu einem Medium begleitet wird, das dann vermeintlich mit dem Verstorbenen Kontakt aufnimmt. Auch die Reporterin selbst hat einen geliebten Menschen verloren. Auch sie nimmt an einer Sitzung des Mediums teil und resümiert, eine solche Form der Trauerbewältigung könne Betroffenen helfen.

Die Reportage ist 33 Minuten lang, es gibt lange Interviewsequenzen mit dem Medium selbst. Eine Einordnung, dass all das ziemlicher Hokuspokus sein könnte, etwa von einer externen Expertin oder einem Experten, fehlt. Stattdessen verweist die Moderatorin im Nebensatz auf eine ältere Reportage zum Thema Esoterik aus dem Jahr 2017.

Nahtoderfahrungen, aber kein Arzt in der Nähe

Ungefähr so sehen viele Reportagen von „Die Frage” aus. In einer Folge kommt eine junge Frau zu Wort, die Nahtoderfahrungen gemacht hat. Sie selbst erklärt in der Reportage, wie all das biologisch zu erklären ist, und vergleicht sich selbst mit einem Laptop, der überlastet ist und neu starten muss. Wer nicht zu Wort kommt: ein Arzt, der das vermutlich weitaus besser einordnen könnte, ebenso wie die Nahtoderfahrung selbst. Nicht selten kommen Zweifel auf, ob das überhaupt alles so stimmt, was Protagonistinnen und Protagonisten in diesen Videos erzählen.

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Ein anderer Protagonist des Formats geht gerne an den FKK-Strand. Mal spricht eine Frau über ihre Borderline-Persönlichkeitsstörung, mal eine andere über ihre Arbeit als Prostituierte.

Gleiches Spiel bei „Follow me Reports”: In einem Film wird ein Drogenabhängiger begleitet, in einem anderen eine junge Frau, die Angst vor der Schule hat. Ein Film zeigt einen jungen Mann, dem ein Bein fehlt, ein anderer wiederum begleitet eine Frau, die sich prostituiert.

Formate schwenken um

„Tru Doku” unterscheidet sich von diesen Formaten nur dadurch, dass hier die Reporterin oder der Reporter fehlt. Stattdessen sprechen die Protagonistinnen oder Protagonisten allein vor der Kamera. Eine Frau, die unter Migräne leidet, ein Mann, der einen schweren Unfall hatte, eine Frau die ein Attentat überlebt hat, zwei Menschen, die nach tagelangem Koma zurück ins Leben finden.

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Eine besonders interessante Entwicklung hat das Format „Reporter” gemacht. Hier erschienen vor einigen Jahren noch viele klassische Reportagen, etwa über die Proteste im Hambacher Forst, die antirechts Proteste in Chemnitz, Hodenkrebs oder Fake-Influencer. Heute konzentriert sich auch dieses Format wie alle anderen vor allem auf Einzelschicksale.

Allein die letzten fünf Videos beschäftigen sich mit einer intergeschlechtlichen Protagonistin, einem Spielsüchtigen, einer Autistin, einem Mann, der gerne Röcke trägt, einem Prostituierten. Nur gelegentlich weicht das Format noch ab. Ein etwas aufwendigerer Film etwa beschäftigt sich mit einer Firma, die Praktikantinnen und Praktikanten abzockt.

Interviewformat mit Millionen Followern

In einem Punkt unterscheiden sich die „Reporter”-Filme von denen anderer Formate. Hier hält man es offenbar für wichtig, eine ausgewogene Sicht auf ein Thema darzustellen und nicht nur ein Einzelschicksal. Im Film über Intergeschlechtlichkeit beispielsweise kommt auch eine Ärztin zu Wort.

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Auch Ansätze von konstruktivem Journalismus sind zu erkennen. In einem Film über Autismus wird nicht nur eine Protagonistin, sondern auch ein Autismuscoach interviewt. Die Reporterin will herausfinden, wie „eine gute Kommunikation zwischen nicht autistischen Menschen und autistischen Menschen funktionieren kann”.

„Leeroy will’s wissen” ist mit 1,7 Millionen Followern das mit Abstand erfolgreichste Format dieser Art. Moderator Leeroy Matata spricht mit einem Zoophilen, einer Frau, die die Krankheit Morbus Crohn hat, einem Mörder, einer Domina. Hier wird jedoch der Reportageumbau gleich ganz weggelassen, stattdessen handelt es sich um reine Interviews. Gleiches gilt für das Format „Auf Klo“. Hier sprechen die Moderatorinnen mit Menschen, die Platzangst haben, einer lesbischen Pfarrerin und einer Frau, die Schmerzen beim Sex hat.

Und immer wieder Unfälle

Die Flut der Einzelschicksale bei Funk führt natürlich dazu, dass Themen in den Formaten auch doppelt behandelt werden. Zum Thema Vaginismus beispielsweise wird sowohl bei „Die Frage” als auch bei „Auf Klo” eine Betroffene interviewt. Immerhin: Bei „Die Frage” spricht der Reporter neben der Protagonistin zusätzlich noch mit einer Beckenbodentrainerin.

Das Thema Transsexualität taucht bei nahezu allen der genannten Formate mindestens einmal auf, bei „Tru Doku” immerhin mit einem besonderen Dreh: Transgender bei der Bundeswehr. Auch Themen zur Geschlechteridentität wie „Femme Invisibility” oder die nicht binäre Geschlechtsidentität werden immer wieder thematisiert, Letzteres bei fast allen genannten Formaten.

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Auch das Thema Unfälle ist ein immer wiederkehrendes: „Die Frage” interviewt eine Frau, die Schuld an einem tödlichen Unfall trägt, „Tru Doku” einen jungen Mann, der beim Klettern abgestürzt ist, „Follow me Reports” interviewt Protagonisten, die von einem Unfall Brandnarben davongetragen haben.

Warum so viele Porträtformate?

Es drängt sich unweigerlich die Frage auf: Warum fokussiert sich Funk von ARD und ZDF so stark auf diese Einzelschicksale und Porträtformate?

Eine Antwort könnte sein: Die Formate kommen bei der jungen Zielgruppe unglaublich gut an. Alle genannten Kanäle haben Followerzahlen im sechsstelligen Bereich, „Leeroy will’s wissen” sogar noch mehr. Auch die Abrufzahlen der einzelnen Videos sind in den allermeisten Fällen sechsstellig, einige der Videos knacken sogar die Millionenmarken.

Beim Youtube-Kanal von „Reporter”, der vom WDR produziert wird, ist das besonders gut zu beobachten. Das Video „Sex mit fremden Männern: Darum geht Tom (19) anschaffen” hat nach einigen Wochen 340.000 Aufrufe gesammelt. Frühere Formate des Kanals, etwa eine Reportagereihe mit dem Titel „Leben retten auf dem Mittelmeer” aus dem Jahr 2017, schafften es seinerzeit teilweise nur auf 15.000 Aufrufe – und das, obwohl sie deutlich hintergründiger sind. Eine aufwendige Reportage mit dem Titel „Ukraine: Wie sicher ist die LGBT-Community?” schafft es nicht mal auf 11.000 Aufrufe.

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Nicht weiter als bis zur Haustür

Ungefähr zur selben Zeit erscheint auf dem Kanal die Reportage über das Einzelschicksal einer junge Frau. Sie trägt den Titel „Meine Haut ist so empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel”. Die Protagonistin Nina leidet unter Epidermolysis Bullosa, einer schweren Erkrankung der Haut. Bis heute wurde das Video satte 2,1 Millionen Mal angesehen.

Auch der Kanal „Die Frage” hatte offenbar mal ein ganz anderes Ziel. In einem Trailer von 2018 erklärt ein Reporter, dass er „echt manchmal ziemlich weit” gehe, „um Antworten zu finden“, zudem probiere er „super viel aus”. Tatsächlich gibt es auch heute noch einige Videos, die diesem Konzept folgen, etwa eine Reportage aus der Gerichtsmedizin. In vielen Fällen allerdings gehen die Reporterin oder der Reporter nicht mehr „ziemlich weit”, sondern nur noch bis zur Haustür des Protagonisten oder der Protagonistin.

Ein zweiter Grund könnte sein: Die Formate sind deutlich schneller und deutlich günstiger zu produzieren. Für das Porträt einer einzelnen Protagonistin muss das Reporterteam nur einen Tag zu ihr nach Hause fahren. Verzichtet man dann auch noch auf das Gespräch mit einer Expertin oder einem Experten oder weiterführende Recherchen, ist der Dreh damit bereits abgeschlossen. So ist es auch möglich, diese Filme massenhaft zu produzieren. Auf den genannten Funk-Kanälen erscheinen wöchentlich neue Videos.

Was Funk sagt

Aber sollte Quantität tatsächlich der Maßstab für öffentlich-rechtliche Beiträge sein? Und braucht es für diese Art von Geschichten tatsächlich sechs verschiedene Formate?

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Eine Sprecherin von Funk erklärt auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), dass die Zuschauerschaft des Jugendangebots „aufgrund verschiedener Lebenswelten sehr divers” sei. Deshalb brauche es „mehrere Formate mit verschiedenen Erzählweisen, um dem Anspruch gerecht zu werden, alle Unterzielgruppen zu erreichen”. So würden viele der Formate beispielsweise nicht nur auf Youtube ausgespielt, sondern auch auf anderen Plattformen wie etwas Snapchat. Dort gebe es jeweils unterschiedliche „Ansprechhaltungen und Formatierungen”.

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formaten erklärt die Sprecherin so: „Follow me Reports” und „Reporter” hätten neben Youtube auch „starke Präsenzen auf Snapchat, wo sie eine jüngere und weiblichere Zielgruppe erreichen. Außerdem unterscheiden sich die Erzählweisen und Genreformen der Formate.” „Tru Doku” hingegen konzentriere sich auf die Protagonistinnen und Protagonisten der Videos, das Format habe daher keinen Host. Auf Youtube erreiche es eine vorwiegend weibliche Zielgruppe.

„Keine Kostenfrage“

„‚Die Frage‘ widmet sich in monatlichen Reihen einzelnen Themen. So gelingt es dem Format, die Themen in mehreren Videos aus verschiedenen Blickwinkeln aufzuarbeiten”, so die Sprecherin weiter.

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„Bei ‚Follow me Reports‘ kann die Community ihre Fragen an die Hosts stellen, die dann im Film aufgegriffen werden. Das Format zeichnet sich also – zusätzlich zur Präsenz auf Snapchat – besonders durch seine Interaktivität aus. Der Kanal mit Leeroy Matata fokussiert sich dagegen auf lange, konzentrierte Interviewsequenzen.”

Dass überhaupt so viele Porträtformate produziert würden, sei „keine Kostenfrage”, versichert Funk. „Die Geschichten dienen als Orientierung und greifen Fragestellungen, gesellschaftliche Entwicklungen oder Zustände anhand von persönlichen Erlebnissen auf”, so die Sprecherin. Ob die Filme produziert werden, weil sie besser geklickt werden als aufwendigere Formate, lässt die Sprecherin offen.

Journalismus oder Unterhaltung?

Warum sich die Formate häufig auf die Geschichte einer Person konzentrieren, jedoch wenig einordnen, erklärt Funk so: Die Protagonistinnen und Protagonisten seien die Experten. Anders als bei einem Wissensmagazin ginge es nicht um Zusammenhänge – etwa, was bei einer Nahtoderfahrung in einem Gehirn passiere. Es gehe darum, wie sich die Erfahrung anfühle.

„Die Protagonistinnen und Protagonisten können diese Fragen am besten beantworten”, meint Funk. Allerdings seien bei Formaten wie „Die Frage” auch schon Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzte, Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner sowie eine Sexualforscherin zu Wort gekommen.

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Es leuchtet ein, warum Funk diese Beiträge in einer so hohen Anzahl produziert – und der Erfolg bei der Zielgruppe gibt dem Jugendangebot von ARD und ZDF recht. Eine Frage bleibt aber dennoch: Ist all das wirklich Journalismus, der „gesellschaftliche Entwicklungen” darstellt und einem öffentlich-rechtlichen Angebot würdig ist? Oder am Ende doch einfach nur schlicht produzierte Unterhaltung?

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