Kölner „Tatort“ über obdachlose Frauen: Wie realistisch ist das gezeigte Bild von der Straße?
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Eine Szene aus dem Kölner „Tatort: Wie alle anderen auch“: Monika Keller (Rike Eckermann, links) verkauft Obdachlosenzeitungen. Sie hilft Ella Jung (Ricarda Seifried, rechts), die gerade erst lernt, sich auf der Straße durchzuschlagen.
© Quelle: WDR/Martin Valentin Menke
Hamburg/Köln. Zwei Frauen werden in Notunterkünften vergewaltigt, eine von ihnen wird auf der Straße durch das Schmerzmittel Fentanyl im Tee einer Thermoskanne getötet und später angezündet: Es sind heftige Szenen, mit denen der Kölner „Tatort: Wie alle anderen auch“ am Sonntagabend im Ersten ein ernsthaftes Thema beleuchtete – die Situation von obdachlosen Frauen in Deutschland. Doch sind es auch realistische Szenen? Und wie ist die Situation von Frauen auf unseren Straßen?
„Rund 25 Prozent der Obdachlosen in Deutschland sind Frauen“, sagt Andrea Hniopek von der Caritas in Hamburg dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie leitet dort den Fachbereich Existenzsicherung und kümmert sich um ein Containerprojekt für obdachlose Frauen. Hniopek vermutet, dass die Dunkelziffer der wohnungslosen Frauen aber wesentlich höher ist. Denn: Viele Frauen versuchten auch, ihre Obdachlosigkeit zu verstecken.
Sexuelle Übergriffe auf der Straße keine Seltenheit
So wird es auch im „Tatort“ gezeigt: Eine Obdachlose, die einen Job als Altenpflegerin hat, will nicht, dass ihr Arbeitgeber erfährt, dass sie keine Wohnung hat. Sie schläft nachts heimlich in ihrem Auto, duscht auf der Arbeit, und leugnet, in einer Notunterkunft vergewaltigt worden zu sein, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Wer den Krimi gesehen hat, bekommt dabei den Eindruck, dass solche sexuellen Übergriffe auf der Straße keine Seltenheit sind – und oft auch keine Konsequenzen haben. Der der Vergewaltigung bezichtigte Obdachlose nennt im Film das Ganze vor der Polizei „einvernehmlichen Sex“, die Beamten stellen daraufhin das Verfahren ein. „Fast alle obdachlosen Frauen sind von Gewalt betroffen“, spricht Caritas-Mitarbeiterin Hniopek über die traurige Realität, die damit übereinstimmt. „Die meisten werden mindestens einmal vergewaltigt.“
Die Frauen hätten unterschiedliche Strategien, um dem zu entgehen. Einige wenige würden sich „gezielt verwahrlosen lassen“, um keine Beute für sexuelle Übergriffe zu werden, so Hniopek. Die meisten aber versuchten eher, sich trotz des Lebens auf der Straße zu pflegen und gut anzuziehen und regelmäßig die Schlaforte zu wechseln, um nicht als Wohnungslose aufzufallen.
„Viele gehen Partnerschaften ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben“
„Viele gehen auch Partnerschaften ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben“, sagt die Caritas-Projektleiterin. Mit Partnerschaften meint sie keine Liebesbeziehungen, sondern dass die obdachlosen Frauen versuchten, für eine bestimmte Zeit bei nicht obdachlosen Männer – oft gegen körperliche Gefälligkeiten – unterzukommen. Auch Stella B. aus Hamburg hat einmal für drei Wochen bei einem Mann gelebt, den sie nachts kennenlernte, allerdings ohne Gegenleistung, wie sie dem RND erzählt.
Etwa eineinhalb Jahre lebte die heute 60-Jährige laut eigenen Angaben auf der Straße, seit Ende 2019 ist sie in dem Containerprojekt der Caritas untergekommen. In Containern können dort zehn Frauen oder Transfrauen leben, es soll ein Schutzraum sein. Auch ein Schutz vor übergriffigen Männern.
„Als Frau wird man auf der Straße oft sexuell belästigt, egal wie alt man ist oder wie man aussieht“, sagt auch Stella B., deren Gesicht beim Interview zum Großteil durch eine Schutzmaske bedeckt ist. Mittellange blonde Haare umranden ihr Gesicht. Sie selbst habe schon als Kind Gewalt erfahren, später sei sie aus ihrer Wohnung auf die Straße geflohen, weil sie in dem Haus bedroht und angegriffen worden sei. „Ich habe das bei der Polizei gemeldet, aber die hat nicht geholfen“, sagt sie. „Ich fühle mich nicht mehr sicher allein in einer Wohnung.“ Was für viele unvorstellbar ist: Trotz all der Gefahren fühlte die Hamburgerin, die geschieden ist und keine Kinder hat, sich auf der Straße sicherer als in ihrer Wohnung – „auch wenn es da ebenfalls viele gefährliche Situationen gibt“.
Stella B. übernachtete in Straßenbahnen und auf Parkbänken
Es folgten eineinhalb harte Jahre, in denen Stella B., die auch gesundheitliche Probleme hatte und mehrfach operiert werden musste und seitdem Erwerbsminderungsrente bezieht, in S- oder U-Bahnen, auf Parkbänken oder anderswo draußen übernachtete, wie sie erzählt. Mit Notunterkünften habe sie eher schlechte Erfahrungen gemacht, da seien oft „viele aggressive und schmutzige Leute“ gewesen. Es habe viele Übergriffe gegeben.
Sexuelle Belästigungen zeigte sie demnach in dieser Zeit nicht mehr an. „Auf der Straße verändert sich die Seele“, sagt sie. „Man glaubt nicht mehr an Hilfe von außen und will alles allein regeln.“ Sie kritisiert das politische System, das hier nicht helfe. Außerdem sei sie als Obdachlose nicht nur zahlreichen Gefahren ausgeliefert gewesen, sondern auch ständig von Orten vertrieben worden. „Ich habe zum Teil nur drei Stunden die Woche geschlafen, weil ich immer wieder aufgeweckt und verscheucht wurde.“
Mittlerweile kann ihr das nicht mehr passieren: Ihr Container ist aktuell ihr Zuhause, das sie abschließen kann und wo sie auch Ansprechpartner hat, die ihr bei Bedarf helfen. Für immer kann sie dort nicht bleiben, aber erstmal schon. Sie kann sich vorstellen, irgendwann in eine nette Wohngemeinschaft zu ziehen, wo sie sich sicher fühlen könnte, erzählt sie. Doch konkrete Pläne mache sie nicht mehr, seitdem sie auf der Straße gelandet sei.