„Meine beste Freundin Anne Frank“: bewegendes Drama über die NS-Zeit
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Schmieden Pläne für die Zukunft: Hannah Goslar (Josephine Arendsen) und Anne Frank (Aiko Beemsterboer) 1942 im von den Nazis besetzten Amsterdam.
© Quelle: Netflix
„Ich denke, du solltest tun, was dich glücklich macht“, sagt Anne Frank, die unter Tränen lächelt, als sie durch ein Loch in einem meterhohen Strohmattenzaun noch einmal ihre Schulfreundin Hannah Goslar sieht. „Ich will mitkommen“, sagt Hannah da zum ersten Mal. Sie will mit Anne um die Welt reisen, mit ihr, die immer vom Globetrotten geträumt hat, alles sehen, alles erleben.
Die Voraussetzungen für solch eine Zukunft sind indes nicht gut. Anne leidet Hunger, ist krank und ohne medizinische Versorgung. Von der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ist zwar schon die Rede und für Hannah und ihr Schwesterchen Gabi wird die Freiheit schließlich auch Wirklichkeit werden - nachdem ein Zug, der sie ins Konzentrationslager Theresienstadt bringen soll, auf offener Strecke stehenbleibt und die „Häftlinge“ von der Roten Armee aus den Waggons befreit werden. Anne Frank aber wird vorher sterben.
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Die in Frankfurt geborene Anne Frank wurde Opfer des antisemitischen Wahnsinns im Deutschland der NS-Zeit, der schließlich im Holocaust, dem industriell betriebenen Genozid gipfelte. In den zwölf Jahren der Hitler-Diktatur wurde Millionen Menschen das Leben genommen, zuvor ihre Träume, Hoffnungen und Würde. Mit der Veröffentlichung ihres Tagebuchs wurde Anne Frank zu einem der bekanntesten Gesichter der NS-Opfer.
Von George Stevens’ Hollywoodfilm (1959) an wurde sie immer wieder filmisch in Erinnerung gebracht. Zuletzt geschah das eher spielerisch – in der fantastischen Serie „Anne Frank Video Diary“ (2020), in der Anne Frank mit einer Videokamera statt einer Kladde ausgestattet war sowie in dem Animationsfilm „Where Is Anne Frank?“ (2021) des israelischen Regisseurs Ari Folman („Waltz with Bashir“), in dem Annes imaginäre Freundin Kitty, der sie ihre Aufzeichnungen aus dem Versteck gewidmet hatte, zu einem Mädchen aus Fleisch und Blut wird. In einer nahen Zukunft macht Kitty sich auf die Suche nach Anne und erfährt Schlimmes.
So viel Normalität wie möglich – Zwei Backfische im besetzten Amsterdam
Der Film „Meine beste Freundin Anne Frank“ des niederländischen Regisseurs Ben Sombogaart, der beim Streamingdienst Netflix zu sehen ist, ist eher konventionell, hat die Optik einer TV-Produktion und setzt inhaltlich eine Art Rahmen zu den bisherigen Frank-Verfilmungen. Protagonistin ist Hannah Goslar (Josephine Arendsen), deren Erinnerungen als Buch erschienen. Mit Anne (Aiko Beemsterboer), mit der sie schon seit Kindergartentagen befreundet ist, versucht sie im besetzten Amsterdam, ein ganz normales Backfischleben zu führen: Die beiden Klassenkameradinnen plaudern über Teenagersachen, so etwa mit wem man gerne mal einen Zungenkuss erleben würde, und schwören einander, immer zusammenbleiben zu wollen.
Dass auf ihren Strickjacken ein gelber Stern mit dem Wort „Jood“ aufgenäht ist, versuchen sie auszublenden. Und die deutsche Patrouille, die ihnen im Park einen Tennisball abnimmt, überziehen sie untereinander mit Spott. „Wir sprechen nie wieder mit einem Nazi, außer wenn wir ‚Auf Wiedersehen, du Schwein!‘ sagen“, lacht Anne. Sie ist kecker, die Anführerin, sie fordert die Freundin auf, sich Größeres vorzustellen als ein Leben als Krankenschwester. Hannah ist scheuer und zurückhaltender, aber wenn sie sich in der Not das Mantra „Was würde Anne Frank machen?“ ausgibt, fällt ihr doch immer etwas ein.
Der Regisseur macht seine Heldinnen nicht zu Heiligen
Sombogaart vermeidet die Heiligung seiner Protagonistinnen. Wird Hannah im gemeinsam gegründeten „Klub des Kleinen Bären“ (nach dem Sternbild) gemobbt, kann sie sich Annes Loyalität keineswegs sicher sein. Zwischen wohlgelitten und zerstritten braucht es auch unter besten Freundinnen zuweilen nur ein paar Sätze. Anne versteht sich auf Gemeinheiten ebenso wie auf Versicherungen unbedingter Liebe. Sie verspricht, Hannah mit zu ihrer Verwandtschaft in die Schweiz zu nehmen und ist dann anderntags weg – in ihrem Versteck, in dem sie – wohl durch Verrat – im Oktober 1944 festgenommen wurden.
„Ich dachte, du bist in der Schweiz“, sagt Hannah dann bei der unverhofften Begegnung in Bergen-Belsen. „Ich dachte, du wärst tot“, erwidert Anne. Für ein paar kurze Momente im schlimmstmöglichen Umfeld sind sie wieder die Schulfreundinnen von einst, die sich alles erzählen und sich eine Zukunft erträumen. Ob Hannah ein Brüderchen bekommen habe, fragt Anne. Wie man einander doch vermisst habe. Dass sie und ihre Schwester Margot sehr krank seien, sagt Anne noch. Und: „Wir sind so furchtbar allein.“
Jenseits ihrer beiden Heldinnen gelingen dem Autorenteam Marian Batavier und Paul Ruven kaum nennenswerte Porträts. Die meisten Personen bleiben skizzenhaft, die Nazis sind allesamt Appelle liebende, „Heil Hitler!“ bellende Sadisten, die ihren Schäferhunden unter den Augen ihrer hungernden Opfer Wurststücke in die Schnauze schieben und auch sonst die Klischees brutaler Führerschergen erfüllen. Nicht, dass man sich einen ambivalenten SS-Mann gewünscht hätte, aber zumindest einen, der halbwegs als Charakter durchginge. Freiheiten nehmen sich die Macher auch - zum Zwecke dramatischer Zuspitzung. In Medienberichten über Hannah Pick-Goslars Auftritte im Berliner Anne-Frank-Zentrum aus den Nullerjahren, wird die Holocaust-Überlebende wiederholt zitiert, es habe keinen Sichtkontakt gegeben, sie habe ihre Freundin Anne lediglich gehört und gesprochen, ihr Päckchen mit Lebensmitteln über den Zaun geworfen. Wie Pick-Goslar zu dem Film steht ist nicht bekannt, in der Liste der an „Meine beste Freundin Anne Frank“ Beteiligten taucht ihr Name nicht auf.
Sombogaart zeigt das menschenverachtende Wesen des Nationalsozialismus in einer Zeit, in der sich die Rechten überall in Europa wieder nach Macht und Einfluss strecken, Demokratie diskreditieren, Wahrheit verdrehen. Mitten in Deutschland wird jüdischen Mitbürgern wieder die Kippa vom Kopf geschlagen. Den neuen Anfängen, so es überhaupt noch Anfänge sind, gilt es zu wehren. Für Hannah Goslar, die heute noch in Jerusalem lebt. Und für Anne Frank, die die von ihr ersehnte Welt nie sehen durfte.
„Meine beste Freundin Anne Frank“, 103 Minuten, Regie: Ben Sombogaart, mit Aiko Beemsterboer, Josephine Arendsen, Roeland Fernhout, Lottie Hellingman (ab 1. Februar bei Netflix)