Schwarze Welle aus dem Osten – deutsche Netflix-Serie „Tribes of Europa“

Drei Netflix-Helden in einer Welt der Stämme: Liv (Henriette Confurius, v. l.), Elja (David Ali Rashed) und Kiano (Emilio Sakraya) führen die drei Hadlungsstränge von „Tribes of Europa“ an und zielen auf ein jugendliches Publikum.

Drei Netflix-Helden in einer Welt der Stämme: Liv (Henriette Confurius, v. l.), Elja (David Ali Rashed) und Kiano (Emilio Sakraya) führen die drei Hadlungsstränge von „Tribes of Europa“ an und zielen auf ein jugendliches Publikum.

Es war einmal nach einem großen globalen Stromausfall. Diesmal, im Jahr 2029, hatte die Menschheit nicht nur alle Beatles-Lieder vergessen wie im Film „Yesterday“. Der mysteriöse Blackout, von den Bewohnern der Wälder Europas „schwarzer Dezember“ genannt, hat die alte, von Elektrizität und Elektronik abhängige Zivilisation zugrunde gerichtet. Im Jahr 2074 ist Deutschland, eigentlich die ganze EU passé. Europa ist in Tribes zerfallen, in Stämme, die nur noch ihr Ding machen wollen.

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Die etwas gespreizt „Origines“ genannten Forstbewohner der etwas gespreizt „Tribes of Europa“ genannten Serie, schwören auf ein Leben ohne Technik. Wobei ein bisschen Elektrizität nicht schaden kann, wenn mal was zu feiern ist und man zu ein paar Popsongs tanzen will. Ansonsten bauen die Origines ihre Rüben an, erlegen den Wolf mit Armbrust oder Bogen und führen auf ihrem Holzweg in ihren Reißverschluss-trifft-auf-Naturleder-Outfits das alte Jäger-und-Sammler-Leben urzeitlicher Vorfahren. Frieden für immer.

Eines Tages aber stürzt ein raumschiffartiges Gefährt in der Nähe ihres etwas gespreizt „Refugium“ genannten Gebiets ab, von dem aus man, wenn die Kamera mal hochzieht, auch die Ruinen Berlins sehen kann. Einige der Origines riskieren dann doch einen Blick auf das Wrack (endlich ist mal was los in dieser film- und serienfreien Welt). Und damit beginnt der Schlamassel.

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Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. In der festungsartig gesicherten früheren Hauptstadt hausen die Crows (Anglizismen sind auch im Neugermanien der Stämme schwer angesagt). Deren Ding ist, die Dinger der anderen Stämme zunichtezumachen. Sie halten Sklaven, stehen auf Sex, Unterjochung und Tod und werden angeführt vom Capitan Ivar (Sebastian Blomberg), einem cartoonartigen Stockschwinger mit Samuraizopf und einem gerüttelten Maß Caligula-Irrsinn.

Man fragt sich von Sekunde eins seines Auftritts an, wie irgendwer auf das Kommando eines solch lachhaften Nervenheilanstaltsprimus hören kann, der mit all den Irren aus John Carpenters kultigem Unglaubwürdigkeitsklassiker „Die Klapperschlange“ mühelos mithält. Aber Serienschöpfer, Drehbuch-Co-Autor und Co-Regisseur Philip Koch schien dieser Tribe-Lord, der von der Vorherrschaft über „ganz Jurropa“ (wem ist bloß dieser alberne Serientitel eingefallen?) träumt, vorstellbar – vielleicht das Resultat von vier Jahren Trump-Realdystopie. Jedenfalls wollen der Capitan und seine Darth Vaderella, die kampferprobte „Lord“ Varvara, das abgestürzte, raumschiffartige Gefährt nach dem Cube filzen. Und damit beginnt der Schlamassel erst richtig.

Es gibt noch andere Parteien, etwa die Einheiten der militärisch organisierten „Crimson Republic“ mit Bundeswehrbarretten, die von einem Neuanfang des alten Kontinents zu alten Bedingungen träumen und Ordnung ins paneuropäische Chaos bringen möchten. Und alle glauben, dieses ominöse Dingsbums an Bord des seltsamen Gefährts, das vom Tribe der Atlantier kam („so etwas gab es in der alten Welt nicht“), müsse in ihren Besitz gelangen, um ihren Absichten dienstbar zu sein.

Der junge, unschuldige Elja (David Ali Rashed), Teil des jugendlichen Heldentrios, das noch aus zwei Geschwistern, der bedächtigen Liv (Henriette Confurius) und dem neugierigen Draufgänger Kiano (Emilio Sakraya) besteht, findet den graphitgrauen Würfel mit den neonblauen Lichtlinien und – „Liegen lassen“ möchte man ihm zurufen – steckt ihn ein. „Etwas wird kommen. Etwas Gefährliches. Von Osten“, hüstelt der schwer verletzte atlantische Pilot, auf den Elja dann auch noch stößt. „Der Cube muss zurück zu meinen Leuten. Er darf nicht in die falschen Hände geraten.“ Flatsch – der Kuhfladen hat jetzt den Ventilator getroffen, der weltrettende Macguffin ist im Spiel.

Abtörnend wichtigtuerisch klingen schon die ersten Worte der Erzählerin: „Ich bin Liv. Liv von den Origines. Für viele Jahre lebten wir glücklich. Mein Tribe.“ „Könnt ihr mich verstehen?“, fragt Livs Vater (Benjamin Sadler) die seine Siedlung verheerenden Crows, als hätten sich in den 45 Jahren seit dem großen Lichtaus große Sprachverwirrungen ereignet. Überhaupt gehen die Serienmacher davon aus, dass sich binnen nicht einmal eines halben Jahrhunderts völlig neue Menschheitskulturen herausbilden könnten.

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Anders als in andere Geschichten um Endzeit und Modelle eines Neubeginns wie „The 100“ oder „The Walking Dead“ taucht man nur widerstrebend in diese deutsche Standardpostapokalypse ein. Zu viel ist ungelenk, zu viel standardmäßig. Alles beginnt mit der Netflix-08/15-Exposition eines rätselerfüllten Bildes mit vielen Toten und einer Überlebenden. Damit wird der Zuschauer angefixt, einer überwiegend gut fotografierten 08/15-Story mit Standarddialogen und handlungsgetriebenem Personal zu folgen. Tiefe, Komplexität, Originalität der nobleren Netflix-Klasse – Fehlanzeige.

Logik ist zuweilen auch ein Problem: Dass es den gut gerüsteten Militärs der „Crimson Republic“, in deren Reihen sogar die österreichische Mundart bewahrt werden konnte, noch nie gelungen sein soll, einen Crows-Gefangenen zu machen, kommt einem wenig glaubhaft vor. Dass die Origines zuvor noch nicht einmal einen Crow gesehen haben, erscheint aufgrund der räumlichen Nähe ebenfalls schlecht erfunden.

Schließlich befinden wir uns nicht in einer nordamerikanischen Wildnis, den unendlichen Weiten von M. Night Shyamalans Film „The Village“ oder Stephen Kings Roman „Das Mädchen“. Dass sich auch noch ausgerechnet die halunkischsten Halunken dieser Welt an ihr Crows-Ehrenwort gebunden fühlen und selbst Feinden gegenüber niemals lügen, ist ein geradezu lächerlicher Dreh. Und. Und. Und.

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Und die aufgesetzt erscheinende Coolness einiger der nicht allzu tiefschürfenden Charaktere nervt auch. Oliver Masucci als windiger Schrottsammler Moses Sparwasser, der Elja aufliest und vor dem Zugriff der Crows rettet etwa, ist ein Mad-Max-Han-Solo-Mix, der einem auf deutschen Straßen und Wegen mit seinem rostigen VW-Lasterchen allerdings eher vorkommen will wie ein postapokalyptischer Hans Albers mit Erklärbärfunktion. Hoppla, jetzt komm ich und erzähl euch was: „Das Mindesthaltbarkeitsdatum war eine Erfindung der Lebensmittelindustrie“, protzt er beim Öffnen einer mindestens 45 Jahre alten Dose. Immerhin – damit hat er unrecht. So lange hält keine Bohne. Ja, gelegentlich hat „Tribes of Europa“ Witz.

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„Liv“ steht für „live“ (leben) und so zieht Liv los, um Bruder und Vater aus den mörderischen Sklavendiensten der Crows zu befreien. Und klar ist Elja der Elijah Wood (alias Frodo Beutlin) dieser Geschichte, der den Ring zum Schicksalsberg tragen muss, respektive den Cube zur „Arche“, um Expansion und Sieg des Bösen, die „schwarze Welle aus dem Osten“, zu verhindern, aus dem ja bei Tolkien auch Sauron kam. Zieht da etwa eine neue Pandemie herauf? Gedreht wurde die Serie jedenfalls vor der ersten Weltumrundung von Sars-CoV-2.

„Tribes of Europa, Staffel 1“, bei Netflix, sechs Episoden, von Philip Koch, mit Henriette Confurius, Oliver Masucci, Sebastian Blomberg (ab 19. Februar)

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