Zehnjährige US-Abtreibungspatientin: Wie konservative Medien den Fall als Lüge abstempelten
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Demonstrierende bei einer Kundgebung in Cincinnati
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
New York. Es brauchte nur vier Absätze in einer Regionalzeitung, um ein mediales Lauffeuer über Abtreibungen in den USA zu entfachen, das binnen zwei Wochen US-Präsident Joe Biden und Teile der Presselandschaft erfasste. Im Zentrum des Geschehens: ein zehnjähriges Vergewaltigungsopfer mit unbekannter Identität, das sich plötzlich inmitten des politischen Kampfes über eines der umstrittensten Themen des Landes wiederfand.
Das „Wall Street Journal“ und die „Washington Post“ veröffentlichten Klarstellungen oder korrigierten Artikel, nachdem ein Mann im US-Staat Ohio am Mittwoch offiziell beschuldigt wurde, das Mädchen vergewaltigt zu haben, das im Juni für eine Abtreibung ins benachbarte Indiana reiste.
Erstmals ans Licht kam der Fall in einem Artikel der Zeitung „The Indianapolis Star“ vom 1. Juli. Darin ging es um Patientinnen, die wegen restriktiverer Gesetze in den Nachbarstaaten für Abtreibungen nach Indiana reisten, nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes Ende Juni das grundlegende Recht auf Abtreibung gekippt hatte.
Das Stück begann mit einer Anekdote über eine Ärztin aus Indianapolis, die von einem Kollegen aus Ohio gebeten wurde, dem Mädchen zu helfen, dessen Schwangerschaft sich bereits in einem Stadium befand, in dem eine legale Abtreibung in Ohio nicht mehr möglich war.
Biden griff die Story in einer Pressekonferenz am 8. Juli auf, als er eine Exekutivanordnung ankündigte, um zu versuchen, den Zugang zu Abtreibungsangeboten zu schützen. „Eine Zehnjährige sollte gezwungen werden, das Kind eines Vergewaltigers zu gebären?“, fragte Biden. „Ich kann mir nichts extremeres vorstellen.“
Medien nutzen Fall für ihre politische Agenda
Zu diesem Zeitpunkt standen bereits Fragen über den Artikel im Raum, vor allem durch eine Reihe von Tweets und einen Beitrag der konservativen Kolumnistin Megan Fox bei PJ Media unter dem Titel „Virale Horrorstory über ‚schwangeres zehnjähriges Vergewaltigungsopfer‘ verdient einen tieferen Blick“.
Fox fragte, warum die einzige offensichtliche Quelle für die Geschichte die Ärztin Caitlin Bernard aus Ohio war. Sie stellte deren Glaubwürdigkeit in Frage, weil Bernard Abtreibungen vornimmt und gegen deren Beschränkung protestiert hat.
Der Faktenchecker der „Washington Post“, Glenn Kessler, schrieb am Samstag vergangener Woche über diese Fragen und stellte fest, dass eine Abtreibung bei einer Zehnjährigen ein seltener Fall ist. Diese Geschichte sei schwer zu prüfen, schrieb er. Bernard äußere sich offiziell, doch an Dokumente oder andere Bestätigungen zu gelangen sei nahezu unmöglich ohne Details, die den Ort identifizieren würden, an dem es zu der Vergewaltigung kam.
In dem Artikel des „Indianapolis Star“ wurde der Arzt oder die Ärztin aus Ohio nicht identifiziert, der Bernard anrief. Chefredakteur Bro Krift hat nicht offengelegt, welche Schritte seine Zeitung unternahm, um Bernards Story zu verifizieren. Eine Stellungnahme gegenüber der Nachrichtenagentur AP lehnte er am Donnerstag ab.
Eine namentlich genannte Quelle sei ein guter Anfang, sagte Kathleen Culver, Direktorin des Zentrums für Ethik im Journalismus an der University of Wisconsin. Falls der „Star“ weitere Quellen gehabt habe, sei es denkbar, dass die Zeitung diese nicht habe offenlegen wollen, wegen des Risikos, das Opfer zu identifizieren, sagte sie.
Ärztin als Opfer von Einschüchterungsversuchen?
Der Generalstaatsanwalt von Indiana, der Republikaner Todd Rokita, sagte am Donnerstag, sein Büro ermittle, ob Bernard Gesetze zur ärztlichen Schweigepflicht verletzt habe, indem sie mit der Zeitung über das Opfer gesprochen habe - oder ob sie es versäumt habe, den Behörden einen möglichen Fall von Kindesmissbrauch zu melden. Der Staatsanwalt für Marion County, der Demokrat Ryan Mears, erklärte, sein Büro allein habe die Vollmacht, derartigen Beschuldigungen nachzugehen. Bernard sei Ziel von Einschüchterungsversuchen und Mobbing.
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Bernards Rechtsvertretung veröffentlichte am Donnerstag eine Mitteilung in der es hieß, die Ärztin habe eine angemessene Behandlung erbracht und weder gegen die ärztliche Schweigepflicht noch andere Regeln verstoßen. Bernard erwäge juristische Schritte gegen „diejenigen, die meine Mandantin verleumdet haben“, einschließlich Rokita.
Bernard hatte dem Gesundheitsministerium des US-Staats am 2. Juli eine medikamentöse Abtreibung bei einer zehnjährigen Patientin am 30. Juni gemeldet - binnen der vom Gesetz in Indiana geforderten Dreitagesfrist für unter 16-Jährige, wie der „Indianapolis Star“ und der lokale Fernsehsender WXIN berichteten.
Rechtskonservative Medien sprachen von Lügengeschichte
In konservativen Medienkreisen wurden aus den anfänglichen Fragen zur Quellenlage schnell Behauptungen, die Geschichte sei eine Lüge. „Die Vorstellung, dass Politiker in Amerika versuchen würden, eine Geschichte wie diese auszunutzen und eine Geschichte wie diese zu erfinden, um ihre eigene kranke Agenda voranzutreiben, sagt einem, dass sie das Problem nicht ernst nehmen“, erklärte Charlie Hurt von Fox News.
Das „Wall Street Journal“ schrieb von einer „Abtreibungsgeschichte, die zu gut ist, um bestätigt zu werden“ und konstatierte: „Alle Arten fantasiereicher Geschichten reisen heutzutage in sozialen Medien weit“, aber man erwarte nicht, dass derartige Geschichten im Weißen Haus Gehör fänden. Doch inzwischen musste die Zeitung zurückrudern. Unter der Überschrift „Korrektur der Aufzeichnungen über einen Vergewaltigungsfall“ schrieb sie am Donnerstag: „Es hat den Anschein, dass Präsident Biden akkurat war.“
Das Land müsse einen groben Konsens zur Abtreibung finden, hieß es. Ein Weg dorthin sei, sicherzustellen, dass Geschichten über Abtreibung „von beiden Seiten der Debatte“ einfach bestätigt werden könnten, schrieb die Zeitung.
„Washington Post“-Faktenchecker Kessler fügte seiner Kolumne eine Notiz zur Festnahme in dem Fall hinzu und erklärte, es sei ein Testfall, ob sich Journalisten für eine wirkungsvolle Geschichte auf eine Quelle verlassen sollten.
Kessler hatte wegen seiner ursprünglichen Story und seinen Erklärungen online viel Gegenwind abbekommen. Die bekannte demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez twitterte: „Diese Kolumne ist entsetzlich.“ Das Warten auf eine Bestätigung durch die Strafverfolgungsbehörden sei fragwürdig, weil viele Frauen Vergewaltigungen nicht den Behörden meldeten.
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Shani George, eine Sprecherin der „Washington Post“, sagte das Ziel des Stückes sei gewesen, die Bedeutung von sorgfältiger Berichterstattung in einer Zeit hervorzuheben, in der sich Informationen schnell verbreiteten.
Medien verteidigen Berichterstattung
Fox von PJ Media erklärte, Journalisten sollten Berichterstattung stets in Frage stellen und selbst nachforschen, da Fälschungen heutzutage weit verbreitet seien. Sie würde jede der von ihr ursprünglich aufgeworfenen Fragen erneut stellen, sagte Fox der AP. PJ Media verlagerte sich am Donnerstag rasch auf eine Geschichte mit der Überschrift „Illegaler Einwanderer in Vergewaltigung von zehnjähriger Abtreibungspatientin festgenommen, doch Fragen bleiben“.
Ein Ermittler sagte bei einer Gerichtsanhörung am Mittwoch aus, es gebe keinen Beleg, dass sich der Verdächtige legal im Land befunden habe. In Gerichtsdokumenten vom selben Tag erklärte ein Staatsanwalt, der Verdächtige sei kein US-Bürger und ihm drohe möglicherweise eine Abschiebung. Die AP identifizierte den Mann nicht, weil es Zweifel an seinem kolportierten Namen gab und die Möglichkeit bestand, dass es sich bei ihm um einen Verwandten des Mädchens handeln könnte.
Ethikexpertin Culver sagte, der Vorfall zeige, dass sich die politische Meinungsbildung oft schneller bewege als der Journalismus, und dass Journalisten dabei erwischt würden, wie sie auf Meinungen reagierten. Das wichtigste Problem in dem Fall sei jedoch, dass es offenbar einen sexuellen Übergriff auf eine Zehnjährige gegeben habe. „Und das ist eine Tragödie.“
RND/AP