101-Jähriger zu fünf Jahren Haft verurteilt – Gibt es keine Altersgrenze für den Knast?
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Ein Gefängnisinsasse sitzt in einer Justizvollzugsanstalt vor einem vergitterten Fenster.
© Quelle: Daniel Naupold/dpa
Berlin. Im NS-Prozess gegen einen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen ist der 101-jährige Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Josef S. habe mit seiner Tätigkeit „Terror und Massenmord gefördert“, sagte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann bei der Urteilsverkündung am Dienstag in Brandenburg an der Havel. Das sei ihm auch bewusst gewesen. Mit seiner Wachtätigkeit habe er die NS‑Verbrechen in Sachsenhausen bereitwillig unterstützt.
Der Verteidiger kündigte Revision zum Bundesgerichtshof an. (AZ: 11 Ks 4/21)
Das Landgericht Neuruppin verurteilte S. wegen Beihilfe zum versuchten Mord und folgte mit dem Strafmaß dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Das Gericht halte fünf Jahre Haft für „tat- und schuldangemessen“, sagte Lechtermann. Das Strafmaß für Beihilfe zum Mord liegt bei drei bis 15 Jahren, eine Bewährungsstrafe war nicht möglich. Für Josef S., so der Richter, bestünde nun die Chance, seine Haftentlassung noch zu erleben.
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Der Angeklagte kommt zur Urteilsverkündung ins Landgericht Neuruppin. Der 101-jährige Mann ist wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der Prozess wird aus organisatorischen Gründen am Wohnort des Angeklagten in Brandenburg/Havel und nicht in Neuruppin geführt.
© Quelle: Fabian Sommer/dpa
Wird der hochbetagte Mann jetzt tatsächlich den Rest seines Lebens im Knast zubringen? Welche Regeln gibt es dafür? Und was ist, wenn er schwer erkrankt? Hier die wichtigsten Fragen – und Antworten!
Muss Josef S. mit sofortiger Inhaftierung rechnen?
Nein. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, wird Josef S. nicht inhaftiert. Sein Anwalt kündigte den Gang zum Bundesgerichtshof an. Bis dort die Richter entscheiden, das dauert in der Regel. Ähnlich war es im Fall Oskar Gröning, der weiter unten eine Rolle spielt.
Wo liegt die Altersgrenze für Gefängnisinsassen?
Es gibt keine. Alter schützt nicht vor Strafe, auch nicht vor einer Haftstrafe. Der älteste Gefangene in einer Berliner Justizvollzugsanstalt ist beispielsweise 87 Jahre alt.
Doch unabhängig von den verübten Straftaten: Die Alterung der Gesellschaft spiegelt sich auch vor dem Richtertisch. Die Statistiken der vergangenen Jahre zeigten selbst beim Rückgang der Zahlen von verurteilten Straftätern insgesamt einen Anstieg der Zahlen bei über 70-jährigen Verurteilten. Gleiches ist beim Alter von Häftlingen zu beobachten.
Fachleute gehen davon aus, dass sich der Trend angesichts steigender körperlicher und geistiger Gesundheit älterer Menschen fortsetzen wird.
Werden von einem 101-Jährigen noch Resozialisierungsleistungen erwartet?
Eher nicht. Auch ähnliche Verbrechen wie die in diesem Fall zugrunde liegenden werden vom Verurteilten nicht erwartet. Es ist jedoch im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung und Erinnerung richtig und wichtig, dass diese Taten auch nach so langer Zeit verfolgt und bestraft werden. Das Signal: Auch am Ende ihres Lebens können sich Täter ihrer Verantwortung nicht entziehen.
Gibt es ähnliche Fälle wie den des 101-jährigen KZ‑Wachmanns?
In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Prozesse gegen früheres KZ‑Personal. Aktuell ist in Itzehoe die 97 Jahre alte Irmgard F., die von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur des deutschen Konzentrationslagers bei Danzig gearbeitet haben soll, angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an über 11.000 Gefangenen geleistet zu haben. Weil sie zur Tatzeit 18 bis 19 Jahre alt war, findet der Prozess vor einer Jugendkammer statt.
Aufsehen erregte auch vor mehreren Jahren der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen gegen Oskar Gröning, einen SS‑Mann, der in der Eigentumsverwaltung des Vernichtungslagers Auschwitz gearbeitet hatte. Er wurde 2015 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2017, Grönings hohes Alter stehe einer Verbüßung der Strafe nicht entgegen. Der Verurteilte starb im März 2018 im Alter von 96 Jahren, ohne die Strafe angetreten zu haben.
Was spricht gegen eine Haft nach Verurteilung?
Wenig. Haftvermeidung soll die Ausnahme bleiben, weil der ganze juristische Prozess vom Verdacht bis zur Verurteilung ansonsten sinnlos bleibt. Es gibt den Konsens der Gesellschaft, dass Regelverstöße geahndet werden sollen. Eine Haft ist unzulässig, wenn eine Erkrankung des Verurteilten weder im Gefängnis noch im dortigen Krankenhaus noch ambulant außerhalb des Vollzugs behandelt werden kann. Eine Geisteskrankheit spricht auch gegen eine Inhaftierung.
Werden Senioren wie jeder andere Häftling untergebracht?
Im Prinzip ja. Allerdings sollen sie vor der Brutalität in der Gefängniskultur geschützt werden. Meist sind Ältere auf anderen Fluren untergebracht. Inzwischen gibt es jedoch auch spezielle Ü-60-Haftanstalten oder -Abteilungen, etwa in Bielefeld-Senne, Singen oder in Detmold.
Was passiert mit Pflegefällen unter Inhaftierten?
Es gibt Gefängniskrankenhäuser, in denen auch länger behandelt und sogar gepflegt werden kann. Schwerwiegende Erkrankungen oder Operationen werden aber in normalen öffentlichen Kliniken durchgeführt – mit entsprechendem Wachpersonal der Justiz.
Und wenn ein Inhaftierter sterbenskrank ist?
„In der Regel wird der Häftling dann begnadigt und entlassen“, sagt der Kriminologe und frühere niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer. „Wenn von jemandem keine Gefahr mehr ausgeht, darf er zu Hause sterben.“
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