Junge Mutter aus Syrien berichtet

„Die Dinge kommen bis Aleppo, aber nicht in unsere Dörfer“

Midya Alo (26) hat ihren acht Monate alten Sohn Lawand auf dem Schoß. Die junge Mutter stammt aus Nordsyrien und macht sich nach dem Erdbeben große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern.

Midya Alo (26) hat ihren acht Monate alten Sohn Lawand auf dem Schoß. Die junge Mutter stammt aus Nordsyrien und macht sich nach dem Erdbeben große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern.

Lübeck. Auf dem Handy von Midya Alo (26) häufen sich die schlimmen Nachrichten aus ihrer Heimat. Zwei Tage nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei wurden bislang mehr als 17.000 Menschen tot geborgen. Ihre Eltern und Schwiegereltern in Afrin und Dschindires (Syrien) haben überlebt, viele Verwandte und Freunde nicht. Das Leid ist unermesslich, und die junge Mutter ist verzweifelt, weil in ihrer Heimat keine Hilfe ankommt.

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„Es liegen noch immer Menschen, auch Kinder, unter den Trümmern begraben“, sagt Midya Alo und kämpft mit den Tränen. „Die Familie meines Mannes hat mit bloßen Händen im Schutt nach den Verwandten gesucht.“ Zwei Kinder und deren Vater konnten sie retten, die Mutter, den Großvater und die Großmutter nicht. Laut Midya Alo warten die Menschen in Dschindires und Umgebung verzweifelt auf Hilfsgüter und technisches Gerät. „Die Dinge kommen bis Aleppo, aber nicht bis in unsere Dörfer. Es ist, als habe man das Gebiet im Norden Syriens vergessen“, sagt sie.

+++ Alle Entwicklungen nach den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Liveblog +++

Das Beben hatte eine Stärke von 7,7 bis 7,8

Das Beben hatte am Montag, 6. Februar, mit einer Stärke von 7,7 bis 7,8 das Erdbebengebiet an der türkisch-syrischen Grenze erschüttert. Es folgte ein weiteres Beben der Stärke 7,5. Unzählige Gebäude stürzten ein, und winterliche Temperaturen machen die Katastrophe noch schlimmer.

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Midya Alo (26) schaut sich ein Videos aus dem Erdbebengebiet in Dschindires (Syrien) an. Die junge Mutter stammt aus dem Nachbarort Afrin und macht sich große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern.

Midya Alo (26) schaut sich ein Videos aus dem Erdbebengebiet in Dschindires (Syrien) an. Die junge Mutter stammt aus dem Nachbarort Afrin und macht sich große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern.

Die Bilder gehen ihr nicht aus dem Kopf

In Lübeck nimmt die 26-Jährige ihren acht Monate alten Sohn auf den Schoß. Der Kleine hat gerade ein Mittagsschläfchen gemacht und entlockt der Mutter ein strahlendes Lächeln. Das erlischt schnell, als sie die Bilder aus der Heimat auf Facebook oder bei Youtube zeigt. „Ich versuche, nicht mehr so viel anzuschauen“, sagt sie leise. „Es ist so schlimm.“ Die Bilder gehen ihr nicht aus dem Kopf, gerade die von den Kindern. „Wie können es Eltern aushalten, wenn sie wissen, dass ihr Kind unter den Trümmern liegt und sie können nichts tun?“

Vor dem Erdbeben: Vater Sido und Mutter Fadila sind die Schwiegereltern von Midya Alo. Sie wohnen in Dschindires, Syrien. Dort ist die Zerstörung nach dem Erdbeben vom 6. Februar 2023 besonders groß.

Vor dem Erdbeben: Vater Sido und Mutter Fadila sind die Schwiegereltern von Midya Alo. Sie wohnen in Dschindires, Syrien. Dort ist die Zerstörung nach dem Erdbeben vom 6. Februar 2023 besonders groß.

2015 ist die junge Frau alleine nach Deutschland geflohen

Midya Alo lässt sich nicht leicht von Gefühlen hinreißen. Sie hat viel erlebt. Schwäche hätte ihr nicht geholfen. 2015 ist die junge Frau alleine aus Syrien nach Deutschland geflohen. „Zehn Tage war ich unterwegs, zu Fuß und mit dem Schiff, ich musste auch auf der Straße schlafen“, erzählt sie. In Lübeck hat sie ihren Mann Mohamed (28) kennengelernt. Er stammt aus dem Nachbardorf. Ein glücklicher Zufall. Sie heirateten, der Sohn kam auf die Welt. Midya Alo hat an der Universität zu Lübeck gerade erst ihr Studium im Fach Medizinische Ingenieurwissenschaft abgeschlossen. Ihr Mann macht eine Ausbildung zum Elektroniker. Sie leben gerne in Lübeck, aber der Blick in die Heimat schmerzt.

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Ein Foto aus glücklichen Tagen: Die Familie von Midya Alo aus Lübeck sitzt nach der Zwiebelernte vor ihrem Haus in Afrin (Syrien). Die Lübeckerin macht sich nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023 große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern in Afrin und Dschindires.

Ein Foto aus glücklichen Tagen: Die Familie von Midya Alo aus Lübeck sitzt nach der Zwiebelernte vor ihrem Haus in Afrin (Syrien). Die Lübeckerin macht sich nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023 große Sorgen um ihre Eltern und Schwiegereltern in Afrin und Dschindires.

Von dem Erdbeben haben sie am Montagmorgen gehört

„Nach dem Krieg und allem, was wir erlebt haben, denken wir immer: ‚Morgen wird es besser‘“, erzählt sie, während ihr Mann noch bei der Arbeit ist, „aber dann kommt schon das nächste Unglück für unsere Familien und die Menschen in Syrien.“ Von dem Erdbeben haben sie am Montagmorgen gehört. Per Sprachnachricht sagte der Schwiegervater, es sei eine Katastrophe passiert, aber sie seien am Leben. Doch das Dorf Dschindires liegt in Trümmern, berichtet sie und zeigt die Fotos und Videos von zerstörten Häusern, kaputten Straßen und den verzweifelten Menschen darin. „Es ist der zweite Tag nach dem Beben“, sagt Midya Alo, „aber niemand erzählt von Nordsyrien, von den Kindern, die auf der Straße leben, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Medikamente. Das ist so schrecklich.“

Während in der Türkei Hilfe angelaufen ist, warten an vielen Orten im vom Krieg zerstörten Syrien Menschen weiter auf Rettung. Helferinnen und Helfer nehmen an, dass unzählige Familien noch immer unter den eingestürzten Gebäuden begraben sind. Viele der Erwachsenen und Kinder mussten erneut die Nacht bei eisigen Temperaturen im Freien verbringen.

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Erschwert wird die Hilfe für Nordsyrien von Zerstörungen

Ein UN-Sprecher sagte in New York, dass die Straße nach Bab al-Hawa, dem einzigen Grenzübergang für humanitäre Hilfe zwischen der Türkei und Syrien, beschädigt worden sei. Hilfslieferungen für die Menschen im Nordwesten Syriens seien nur eingeschränkt möglich. Der regionale UN-Hilfskoordinator für die Syrien-Krise, Muhannad Hadi, äußerte jedoch die Hoffnung, dass der Grenzübergang am Donnerstag wieder voll funktionsfähig sei. „Unsere Trucks stehen bereit“, sagte er in Damaskus.

Dieser Artikel erschien zuerst bei den „Lübecker Nachrichten“.

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