Deutsche Frauen in Mailand sexuell belästigt: Sozialpsychologe über die Gefahr von Gruppendynamik
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Im Fall der sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in der norditalienischen Metropole Mailand ermittelt die Polizei gegen 18 Verdächtige.
© Quelle: Ervin Shulku/ZUMA Press Wire/dpa
Es sind erschreckende Szenen, die sich auf dem Mailänder Domplatz abgespielt haben sollen. Zwei deutsche Studentinnen aus Mannheim (beide 20 Jahre) geben an, von einer Männergruppe sexuell belästigt worden zu sein. Insgesamt haben sich bislang neun Opfer bei der Polizei gemeldet. Die italienischen Behörden ermitteln derzeit gegen insgesamt 18 Verdächtige, zwei von ihnen sind am Mittwoch festgenommen worden. Es handle sich dabei um italienische Staatsbürger, sagte ein Polizeisprecher. Drei der Verdächtigen seien noch minderjährig, der jüngste erst 15 Jahre alt.
Doch warum entsteht ein solcher Mob, der ein derartiges Aggressionspotenzial zeigt? „Das ist ein Phänomen, dass wir auch aus anderen Bereichen kennen. Zum Beispiel bei Demonstrationen oder Fußballspielen – immer wenn sich Gruppen oder Massen in einen Rausch steigern“, sagt Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner von der Philipps-Universität Marburg dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Mittwoch.
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Prof. Dr. Ulrich Wagner von der Philipps-Universität Marburg.
© Quelle: Philipps-Universität Marburg
Experte: Deindividuation sorgt für Verlust der eigenen Standards
„Wenn sich Menschen in einer feiernden Gruppe zusammenfinden, dann können Dinge passieren, die man sonst in solchen Situationen nicht tun würde. In der Psychologie nennen wir das Deindividuation“, erklärt Wagner weiter. Menschen würden das individuelle Verantwortungsgefühl sowie das Gefühl, von anderen beobachtet zu werden, verlieren. Der Konsum von Alkohol fördere diese Gruppendynamik erheblich. „Der psychologische Mechanismus ist, dass die Aufmerksamkeit von der eigenen Person weg gerät. Man achtet also nicht mehr auf eigene Standards und gesellschaftliche Normen.“
Bei den Fällen, bei denen sich Männer gegen Frauen richten, können zudem auch bestimmte Geschlechtervorstellungen einen Einfluss haben, erläutert der Sozialpsychologe. „Männer, die glauben, ihnen stehe es zu, Frauen zu beherrschen und übergriffig werden zu können.“ Mehr könne er aufgrund der noch dünnen Faktenlage zu dem konkreten Fall aber nicht sagen.
Opfer fühlen sich erniedrigt und hilflos
Frauen, die Opfer einer solchen Situation geworden sind, können durch diese Misshandlungen schwer traumatisiert werden, so der Experte. „Sie brauchen dringend psychologische Hilfsangebote. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich massive Angststörungen einstellen, die zum Beispiel dazu führen, dass die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, bestimmte Orte aufzusuchen, also ihren Bewegungsraum extrem einschränken.“ Dies gelte umso mehr, wenn es sich wie in Mailand um sexualisierte Gewalt handelt. „Betroffene Frauen fühlen sich oft erniedrigt und hilflos und glauben, dass sie von jetzt an überall solchen Übergriffen ausgesetzt sein können.“
Vermutlich andere Voraussetzungen in der Kölner Silvesternacht
Ein ähnlicher Fall aus Deutschland passierte in der Kölner Silvesternacht 2015, wo ein Großteil der Täter aber einen Migrationshintergrund hatte. Die Herkunft aller Verdächtigen im Mailänder Fall ist noch nicht abschließend geklärt. Bislang ist von Seiten der Polizei nur von Italienern die Rede.
In Köln seien die Voraussetzungen vermutlich etwas anders gewesen, meint Wagner. „Dort hat man im Nachhinein herausgefunden, dass da in nicht unerheblichem Maße junge Männer beteiligt waren, deren Zukunftschancen in Deutschland ganz schlecht waren. Das ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft eine sehr problematische Situation“, sagt der Experte. „Wenn ein Mensch nichts zu verlieren hat, warum soll er sich dann normangepasst verhalten?“ Solche Situationen für Menschen zu schaffen, sei aus psychologischer Sicht nicht gut.