Ohne Begleitung ins Restaurant? Ein Plädoyer für das Alleinsein
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Allein ins Café oder Restaurant? Für viele Menschen unvorstellbar – für andere sogar wichtig.
© Quelle: picture alliance / photononstop
Hannover. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat eine repräsentative Umfrage veröffentlicht. Auftraggeber war das Online-Reservierungsportal OpenTable. Das Ergebnis: Immer mehr Menschen gehen alleine ins Restaurant oder in die Gaststätte. Für ein Drittel der Befragten bleibt das Solodinner aber weiterhin unvorstellbar: Sie sind noch nie allein in einem Restaurant gewesen.
Interessant an der Studie sind aber weniger die Zahlen, sondern vielmehr ihre Deutung: In einem Text der Presseagentur dpa, der auch auf RND.de erschienen ist, versucht die Autorin, die unbekannte „Spezies“ der Alleinesser zu ergründen. „Es sind viele Gründe vorstellbar, warum Menschen in ihrer Freizeit alleine ins Restaurant gehen“, heißt es da etwa. „Zum Beispiel, um unter Leuten zu sein. Oder aus genau dem gegenteiligen Grund: um für zwei Stunden seine Ruhe zu haben. Oder weil man schlicht zu faul zum Kochen ist."
Und es gibt noch weitere Theorien: „Es gibt immer mehr Singlehaushalte und auch ein großes Problem mit Einsamkeit, was die Menschen sehr stark belastet“, sagt der Sozialpsychologe und Professor Hans-Peter Erb. Zudem werden verschiedene Reiseanbieter zitiert, die vermeintlich einsamen Menschen Tipps geben, in Kneipen schnell ins Gespräch zu kommen.
Alleinsein ist gesellschaftlich kaum akzeptiert
Was in den Texten zum Thema nicht mal am Rande erwähnt wird: Es gibt auch Menschen, die aus voller Überzeugung und ganz bewusst immer wieder allein ins Restaurant gehen. Und zwar nicht, weil sie es müssten oder da zwingend Kontakt suchten. Sondern weil das Alleinsein ein essenzieller Bestandteil ihres Lebens ist. Und das hat nicht mal was mit Einsamkeit zu tun.
Ja, diese Theorie mag zunächst einmal fragwürdig klingen. Denn tatsächlich ist das Alleinsein in unserer Gesellschaft kaum akzeptiert. Wer glücklich ist, der geht gefälligst in Scharen mit zum Fußballspiel oder zum Konzert und anschließend in die Kneipe. Der kocht gemeinsam und macht mit Freunden gemeinsam Urlaub. Und er hat Anfang 30 gefälligst damit zu beginnen, eine Familie zu gründen. Im Supermarkt gibt es beispielsweise jede Menge „Familienpackungen“, aber keine Sonderangebote für Alleinlebende.
Wer gemeinsame Abende in einer Gaststätte dankend ablehnt, von Partys schneller verschwindet als andere oder einfach nur sehr gerne alleine lebt, der wird schnell als Langweiler oder komischer Kauz abgestempelt.
Das Phänomen Introvertiertheit
Auch ich, der Autor dieses Textes, verstehe mich als einer dieser „Langweiler“, als einer dieser Alleinesser, einer dieser Alleinreisenden. Und wenn man dem Internet glaubt, dann bin ich damit nicht der Einzige: Ganze Communitys widmen sich dem Phänomen des Alleinseins.
Besonders häufig wird diese Eigenschaft eher introvertierten Menschen zugeschrieben. Sie mögen es leise, sehnen sich nach Ruhe – und tanken in der Zeit, die sie alleine verbringen, Energie. Das Alleinsein wird für sie zum lebenswichtigen Element.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Großraumbüros, die Meetings, die lauten Kneipen, die Partys mit belanglosem Small Talk. All das kann den Introvertierten so sehr strapazieren, dass er oftmals Tage braucht, um seinen Akku wieder aufzuladen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass zwischen 36 und 50 Prozent der Menschen eher introvertiert sind.
Allein sein heißt nicht einsam
Einher geht diese Feststellung mit jeder Menge Missverständnissen. Denn nicht selten wird Introvertiertheit mit Schüchternheit gleichgesetzt, was zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Allein sein bedeutet auch nicht „Single sein“, sondern – ja, genau: allein sein. Und dann ist das Alleinsein für viele Extrovertierte auch noch so unvorstellbar, dass sie es als Einsamkeit begreifen – und somit als Problem auffassen.
Doch wer allein ist, ist nicht zwangsläufig auch einsam. Das sagt auch John Cacioppo, der versierteste Einsamkeitsforscher der Welt. Einsamkeit, so sagt der Psychologe von der University of Chicago, ist nicht an die An- und Abwesenheit von Menschen gebunden. Sie sei auch nicht an die Anzahl von Menschen gebunden, die man kennt. Wer einsam sei, dem fehlten nicht einfach Menschen – sondern das Gefühl, von ihnen beachtet zu werden, anerkannt und gebraucht. Es charakterisiert eine tiefe Unzufriedenheit mit den Beziehungen, die schon bestehen.
Tatsächlich sind viele Introvertierte mit ihrem Leben ziemlich zufrieden. Wir sind keine Soziopathen, keine Misanthropen. Auch wir haben Freunde. Vermutlich sind es weniger als bei anderen, dafür aber umso engere. Aber wir treffen uns mit ihnen an anderen Orten, verbringen unsere Zeit mit ihnen anders – also nicht beim Fußballspiel. Die Alleinreise ist derweil in den meisten Fällen kein Alleinausflug aus der Not heraus – sondern eine ganz bewusste Entscheidung: Die Ruhe, die Eindrücke unterwegs – das alles nehmen wir viel intensiver wahr als in Begleitung.
Ein ständiger Kampf mit sich selbst
Und trotzdem befindet sich der Alleinlebende in einem ständigen Struggle mit sich selbst. Wenn sie allein ins Restaurant gehen, fühlen sich viele Menschen unwohl – Grund ist der sogenannte Spotlight-Effekt. Was denken wohl die anderen Gäste, wenn ich hier ganz alleine sitze? Für die Angst vor dem Alleinessen in der Öffentlichkeit gibt es sogar einen Fachbegriff: Solomangarephobia. Um diese Zweifel abzulegen, kann es Jahre brauchen.
Auch kann das Alleinsein auf andere Menschen abschreckend oder gar unfreundlich wirken. Zum Beispiel, wenn man das Angebot, gemeinsam essen zu gehen, oder die Einladung zu einer Party ablehnt.
Doch der Zweifel am eigenen Lebensmodell kann noch weiter gehen. Der Autor Sebastian Dalkowski hat in der „Rheinischen Post“ einen langen Text über sein Alleinsein geschrieben – und äußert darin auch Zweifel an seinem Lebensstil. „Vielleicht hat es sich an den Samstagabenden mit dem Netflix-Account angekündigt, an denen ich dachte: Alle anderen machen jetzt was, und was machst du? Diese Samstagabende waren schon immer die Ritzen, durch die die Einsamkeit drang, also das Leiden am Alleinsein.“
Diese Gedanken seien in letzter Zeit häufiger geworden, ihre Wirkung stärker, schreibt der Autor. „Mein Leben kippelt gerade in einem Ausmaß, das mir bisher unbekannt war. Wie das eben ist, wenn man die 30 klar überschritten hat und auf das schaut, was man erreicht hat, und es mit dem vergleicht, was man erreichen wollte. Und dann ist da diese Lücke.“
Ein Plädoyer für die Normalisierung des Alleinseins
Jeder Alleinlebende, jeder Alleinessende, jeder Alleinreisende dürfte diese Gedanken kennen. Die Frage ist nur: Sind es wirklich die eigenen Zweifel? Oder werden sie uns einfach nur von der Gesellschaft seit jeher eingeprügelt? Weil es eben so völlig selbstverständlich ist, mindestens zu zweit in ein Restaurant zu gehen, gemeinsam zu leben, zusammen zu reisen? Und weil es für viele so unvorstellbar scheint, wenn etwas von diesem Standardlebensmodell abweicht?
Auch ich habe die Antwort auf diese Frage noch nicht abschließend gefunden. Doch ich habe einen Wunsch: Stellt Menschen, die bewusst und gewollt allein sind, nicht als außerirdische Spezies dar. Nicht in Studien und auch nicht in den dazugehörigen Texten. Es wäre für uns schon mal ein kleiner Schritt in Richtung Normalität. Denn eins sind wir in dieser Angelegenheit sicher nicht: allein.
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