Islamwissenschaftlerin: „Selbst gläubige Muslime freuen sich über Weihnachten“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/SWYEXX6JINFFLBA5QEPM44QAOA.jpg)
Für die meisten Muslime in Deutschland ist Weihnachten ein kulturelles Ereignis, meint Lamya Kaddor (Symbolbild).
© Quelle: picture alliance / Godong
Lamya Kaddor (43) wuchs als Tochter syrischer Einwanderer im westfälischen Ahlen auf. Sie hat mehrfach Bücher über ihr Leben als Muslima in Deutschland geschrieben („Muslimisch, weiblich, deutsch. Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“/ „Die Sache mit der Bratwurst: Mein etwas anderes deutsches Leben“), den Liberal-Islamischen Bund mitgegründet und 15 Jahre lang als islamische Religionslehrerin gearbeitet. Heute sitzt sie als Abgeordnete der Grünen im Deutschen Bundestag.
Wie verbringen Sie den 24. Dezember?
Ich verbringe Weihnachten mit dem christlichen Teil meiner Familie – und das ganz klassisch mit einem Tannenbaum, den ich durchaus auch mal mit schmücke. Ich backe auch Plätzchen und bin für das Kulinarische verantwortlich. Insofern habe ich vielleicht sogar den meisten Weihnachtsstress in der Familie (lacht).
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/3TJQU33PRFDZ3CWFWTYUXDMQJA.jpg)
Lamya Kaddor hat Weihnachten selbst viel zu tun: Sie ist für den kulinarischen Teil verantwortlich.
© Quelle: picture alliance / Eventpress
Welche Bedeutung hat Weihnachten für Muslime in Deutschland?
Für die meisten Muslime, ähnlich wie für viele andere Nichtchristen in Deutschland, ist Weihnachten ein kulturelles Ereignis. Selbst gläubige Muslime freuen sich über Weihnachten, Weihnachtsbeleuchtung und Weihnachtsmärkte. Für sie ist das Fest nicht nur Ausdruck christlicher Religiosität – wie auch in nichtchristlichen Ländern dieser Welt. Selbst in Dubai dreht ein Weihnachtsmann im Kostüm seine Runden im Shoppingzentrum. Weihnachten hat als eins der wenigen Feste das Potenzial, kultur- und religionsübergreifend verstanden zu werden.
Warum hat gerade Weihnachten das Potenzial?
Das sehen wir an unserem Land sehr gut: Hierzulande ist es das wichtigste Fest, auch wenn es eigentlich nicht das höchste christliche Fest ist. Alles spitzt sich am Ende des Jahres weihnachtlich zu: Weihnachtsmarkt, Weihnachtsfeiern, Weihnachtsshopping, Weihnachtsdelikatessen. Auch unsere Sprache ist stark davon geprägt. Man kann sich dem Sog, wenn man hier lebt, nicht so leicht entziehen.
Welche Traditionen haben Menschen muslimischen Glaubens übernommen?
Sehr viele Muslime treffen sich während der Weihnachtsfeiertage mit Freundinnen und Freunden und Familie und genießen die Ruhe nach der Hektik des Jahres – gerade jetzt nach zwei schwierigen Pandemiejahren. Viele haben auch einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen und bringen so Licht in die dunkle Jahreszeit.
Kann Weihnachten auch etwas Ausschließendes haben?
Ich bin im tief katholischen Ahlen aufgewachsen – und da war es gar nicht so einfach, daran teilzuhaben. Wir saßen wirklich einfach nur zu Hause herum, weil alle anderen in ihrem engsten Familienkreis Heiligabend gefeiert und sich zwischen den Jahren zurückgezogen haben. Dieses Feiern im kleinen Kreis ist wiederum aber auch ein sehr deutsches Phänomen. Nicht überall auf der Welt wird in so kleinem Kreise gefeiert. Hinzu kam, dass bei uns Feiertage immer ganz anders gefeiert wurden. Da war immer Tag der offenen Tür bei uns. Ich stelle die zweite Einwanderergeneration dar: Meine Eltern wussten aus Syrien, was Weihnachten ist. Aber für sie ist es ein ganz klar christliches Fest. Und wir hatten damit nichts zu tun.
Was hat sich verändert?
Es ist ein typisches Merkmal einer Einwanderungsgesellschaft, kulturübergreifend Feste zu begehen. Gerade durch Feste kommen wir zueinander. Ein kultur- und religionsübergreifendes Weihnachten hat eine zusätzliche Sichtbarkeit erfahren. Aber dass Feste zunehmend gemeinsam gefeiert werden, gibt es auch bei muslimischen Feiertagen. Ich lade während des Ramadans regelmäßig viele Freunde zum Fastenbrechen ein – und nicht alle davon sind muslimisch. Durch das gemeinsame Feiern stärken wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt und bauen ein kollektives Gedächtnis auf. Das können auch andere Feste, wie Sportereignisse, sein.
Sie haben als islamische Religionslehrerin gearbeitet. Wie sehen Kinder aus muslimischen Familien Weihnachten?
Die Kinder aus der dritten oder vierten Einwanderergeneration gehen mit den vielen Eindrücken von Weihnachten zurück in die eigenen Elternhäuser und fragen: ‚Wie? Wir kriegen keine Geschenke?‘ Viele Familien beugen sich dem Druck und feiern vielleicht kein traditionelles Weihnachten, machen aber etwas Festliches.
Und ist das immer positiv?
Für das Kind vermutlich schon. Für streng gläubige Muslime bedeutet das natürlich Ketzerei. Aber solange nicht nur Christen Weihnachten exklusiv für sich beanspruchen, indem sie es für Anders- oder Nichtgläubige öffnen und es in der Gesellschaft nicht als rein religiöses Fest gesehen wird, ist diese Veränderung positiv.
Was bedeutet Weihnachten für Sie ganz persönlich?
Ich verbinde mit Weihnachten Ruhe und Zeit mit meiner Familie. Aber als Muslimin ist mir Jesus, der auch als Prophet im Koran mehrfach sehr erwähnt wird und eine herausgehobene Rolle hat, nicht unbekannt. Ich gedenke also als gläubiger Mensch auch der Geburt Jesu. Wenn ich mit meiner Familie in der Christmette sitze, empfinde ich es als religiöser Mensch sehr gewinnbringend, auch mal über den Tellerrand zu schauen.