Duell abseits des Spielbretts: Schachkönig Carlsen gegen Teenager Niemann
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Wird er Beweise vorlegen? Schachweltmeister Magnus Carlsen.
© Quelle: IMAGO/Newspix
Im Jahr 2014 verlor der FC Chelsea gegen Aston Villa. Chelsea-Trainer José Mourinho war damals über die Entscheidungen der Schiedsrichter ungehalten. In einem Interview sagte er: „Ich ziehe es vor, nichts zu sagen. Wenn ich etwas sage, komme ich in große Schwierigkeiten, und ich möchte nicht in große Schwierigkeiten kommen.“
Was dieses Zitat mit dem Schachspiel des seit 2013 amtierenden Weltmeisters Magnus Carlsen zu tun hat? Der Norweger postete einen Videoschnipsel mit dem Mourinho-Ausspruch, nachdem er Anfang des Monats bei einem Präsenzturnier in St. Louis überraschend gegen den 19-jährigen US-Amerikaner Hans Moke Niemann verloren und sich danach noch überraschender vom Turnier zurückgezogen hatte.
Onlineturnier: Carlsen gab gegen Niemann nach einem Zug auf
Das war Carlsens erste Niederlage nach 53 ungeschlagenen Begegnungen in Folge. Seitdem ist die Schachwelt in heller Aufregung. Sie interpretierte Carlsens kryptische Videobeigabe als einen Betrugsvorwurf – und damit deutete sich in der jüngeren Geschichte des Spiels der Könige ein prächtiger Skandal an. Bloß beließ es Carlsen beim Rätsel.
Anfang der Woche stießen die beiden Kontrahenten Carlsen und Niemann wieder bei einem Onlineturnier aufeinander. Dieses Mal gab der Weltmeister nach nur einem Zug auf. Warum?
Carlsen übte sich wieder in Andeutungen: „Leider kann ich mich dazu nicht äußern, aber die Leute können ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen, und das haben sie auch getan“, hat er dem Portal „chess24″ gesagt. Schachfreunde rund um den Globus vertröstete er auf das Ende des Wettkampfs, an dem beide weiter teilnehmen: „Ich hoffe, dass ich nach dem Turnier etwas mehr sagen kann.“
Emotionale Gegenrede Niemanns
Seitdem gerät die Situation ein wenig außer Kontrolle. Wer glaubt, dass Schach ein gepflegtes Spiel sei, bei dem sich zwei Menschen an einem Tisch gegenübersitzen und abwechselnd weiße und schwarze Figuren auf einem Brett hin und her schieben, wundert sich.
Niemann, der bislang gar nicht weiß, ob er beschuldigt wird, hat sich zu einer emotionalen Gegenrede hinreißen lassen: „Ich weiß, dass ich sauber bin“, hat er gesagt. Und dann hat der jugendliche Großmeister, der während der Corona-Pandemie in der Weltrangliste um 150 Plätze aufstieg, hinzugefügt: „Wenn sie wollen, dass ich mich völlig nackt ausziehe, werde ich es tun.“
Die Vorwürfe gegen Niemann wiegen schwer: Er hat einräumen müssen, als Zwölf- beziehungsweise 16-Jähriger tatsächlich bei Onlineturnieren betrogen zu haben. Er selbst bezeichnete das als den größten Fehler seines noch jungen Lebens.
„Ein Idiot wie ich“
Nach seinem Sieg gegen Carlsen in St. Louis hatte ihn die größte Schachplattform der Welt, Chess.com, gesperrt, da es Indizien gebe, dass Niemann häufiger betrogen habe. In diesem Zusammenhang auch nicht unwichtig: Im August kaufte Chess.com Carlsens Schachunternehmen Play-Magnus-Gruppe. Niemann seinerseits hat eine Erklärung für Carlsens Verhalten: Es sei diesem gewiss peinlich, „gegen einen Idioten wie mich“ verloren zu haben.
So steht jetzt das Wort eines zweifachen Lügners gegen das eines 31-jährigen Schachkönigs, der mit Verdächtigungen spielt wie in seinen besten Partien mit seinen Gegnern. Carlsen brachte nebenbei Niemanns Mentor Maxim Dlugy ins Spiel, gegen den vor Jahren ebenfalls Betrugsvorwürfe bei Onlineschachspielen erhoben worden waren.
Von einer fairen Kräfteverteilung bei diesem Duell abseits des Schachbretts kann nicht die Rede sein. Der einstmals jüngste Weltmeister Carlsen gilt in seiner Heimat als Popstar. Mit Preisgeld und Sponsorenverträgen verdient er Millionen. Ein Kinofilm über ihn heißt der „Mozart des Schachs“.
Allerdings leidet er seit einiger Zeit unter Motivationsverlust. Er will 2023 nicht wieder antreten, um seine Weltmeisterschaftsehre zu verteidigen. Im nächsten Jahr spielen deshalb der Russe Ian Nepomniachtchi und der Chinese Ding Liren den Titel unter sich aus. Sie müssen damit leben, dass der Schatten Carlsens über ihnen schwebt.
Schon der Verzicht auf diese Titelverteidigung kam nicht bei allen Kollegen gut an. Das gilt erst recht für Carlsens Kapitulation nach nur einem Zug gegen Niemann. Jon Ludvig Hammer, mit Carlsen zusammen in der Nationalmannschaft, forderte im norwegischen Fernsehen Sanktionen: „Absichtlich zu verlieren ist ein absolut unakzeptables Verhalten. Es ist das Unsportlichste, was man im Leistungssport machen kann.“
Carlsen muss Beweise vorlegen
Der Druck auf Carlsen wächst, Beweise vorzulegen. Dazu müsste er aber einmal das Wort Betrug in den Mund nehmen. Und er müsste sagen, wie sich im Schach überhaupt betrügen lässt. Bei einem Onlineturnier ist das leichter vorstellbar: Der Spieler oder die Spielerin lässt ein Schachprogramm mitlaufen und guckt, welche Züge dieses vorschlägt. Beim Präsenzschach wären womöglich versteckte Kopfhörer eine Option, über die sich Anweisungen von einer anderen Person empfangen lassen.
2019 wurde der Großmeister Igor Rausis beim Betrügen erwischt. Er war während seiner Partien mit dem Smartphone auf die Toilette gegangen und hatte mit einer App nach den besten Spielzügen gesucht. In Straßburg wurde er überführt – und verlor seinen Großmeistertitel.
Der Schlagabtausch ohne Schachfiguren dagegen beschäftigt längst nicht mehr nur die Sportszene. Eine Website soll Niemann inzwischen eine Million Dollar geboten haben. Dafür muss er gar kein Turnier gewinnen. Er soll einfach nur das tun, was er für den Fall der Fälle angekündigt hat: Er soll nackt spielen.