Wendepunkt in Russlands Krieg? Was eine Generalmobilmachung am 9. Mai bedeuten würde
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Mariupol ist weitgehend zerstört, doch hier könnte Russland eine weitere Militärparade am 9. Mai abhalten.
© Quelle: -/AP/dpa
Der 9. Mai könnte zum Wendepunkt in Russlands Krieg gegen die Ukraine werden. Eigentlich waren Experten und Expertinnen davon ausgegangen, dass Russlands Präsident Putin diesen historischen „Tag des Siegs“ über Hitler-Deutschland nutzen werde, um einen Sieg gegen die Ukraine zu verkünden. Doch die Verkündung eines Sieges erscheint angesichts der ausbleibenden Erfolge immer unwahrscheinlicher. Der ukrainische Militärgeheimdienst, westliche Militärs und mehrere Experten rechnen nun am 9. Mai in Russland mit einer großen Mobilmachung der Reservisten – und einer offiziellen Kriegserklärung an die Ukraine. Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow sprach von ersten Vorbereitungen Russlands für eine solche Mobilmachung. Belege nannte er nicht. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete die Berichte als „Unsinn“.
Wenn es zur Mobilmachung kommt, dann wären russische Kräfte nicht sofort verfügbar, sondern erst nach Wochen.
Philipp Eder,
Leiter der Abteilung Militärstrategie im Generalstab des österreichischen Bundesheeres
Brigadier Philipp Eder aus dem Generalstab des österreichischen Bundesheeres hält eine Generalmobilmachung aber für ein mögliches Szenario. Allerdings habe Russland seine Organisation zur Mobilmachung zuletzt immer weiter heruntergefahren, sodass die Soldaten nicht sofort zur Verfügung stehen würden. „Die Generalmobilmachung wäre ein längerer Prozess, weil die Reservisten gar nicht darauf vorbereitet sind“, sagte Eder dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es gebe zwar eine große Zahl Reservisten, aber die hätten schon länger nicht trainiert. Auch die Ausstattung für die Reservisten sei entweder unbrauchbar oder müsse erst einmal instand gesetzt werden. „Wenn es zur Mobilmachung kommt, dann wären russische Kräfte nicht sofort verfügbar, sondern erst nach Wochen.“
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Eder hält weitere Szenarien am 9. Mai für möglich. „Militärisch wäre am sinnvollsten, wenn sich Russland mit den bisherigen Erfolgen zufriedengeben und ein ‚Neurussland‘ in den besetzten Gebieten der Ukraine ausrufen würde.“
Daran glaubt der Militärexperte Marcel Berni von der Militärakademie an der ETH Zürich jedoch nicht – im Gegenteil. „Alles spricht dafür, dass Russland die Militäroperation ausweiten und der Ukraine offen den Krieg erklären wird“, sagte er. „Putin muss Erfolge vermelden und hat seit Kriegsbeginn nur sehr wenig Geländegewinne erreicht.“ Durch eine Massenmobilisierung würde die Kampfkraft der russischen Armee aber kaum steigen, glaubt der Experte. „Der Ausbildungsstandard und die Kampfmoral der so rekrutierten Soldaten wäre sehr gering.“ Die russischen Truppen wären den ukrainischen Verteidigern aber zahlenmäßig überlegen und das sei eine Gefahr für die Ukraine. „Mit Waffen aus dem Westen hat sie aber gute Chancen, sich zu wehren.“
Der CDU-Außenpolitiker Kiesewetter sagte nach seiner Reise in die Ukraine dem RND: „Fast alle Gesprächspartner befürchten, dass es an diesem Tag zu einer Generalmobilmachung Russlands kommt – und damit zu einer unmittelbaren Eskalation.“ Russland könne dann 900.000 zusätzliche Reservistinnen und Reservisten mobilisieren.
Eine Generalmobilmachung in Russland verändert die Krisenlage nicht wesentlich, so die Einschätzung des verteidigungspolitischen Sprechers der Unionsfraktion, Florian Hahn (CSU). „Militärisch ist die Generalmobilmachung in Russland schon jetzt gegeben. Es kann noch eine rechtliche Veränderung geben, weil bei offizieller Generalmobilmachung das Kriegsrecht verhängt werden kann. In einem Land, in dem rechtsstaatliche Prinzipien ohnehin nicht gelten, macht das aber keinen Unterschied mehr“, sagte Hahn dem RND. „Meine Befürchtungen werden beim Stichwort Generalmobilmachung also nicht größer, als sie ohnehin schon sind.“ Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hält es noch für zu früh, über eine Generalmobilmachung und die Konsequenzen zu sprechen. Es sei nicht sinnvoll, darüber jetzt zu spekulieren, wer, was, wann dann gegebenenfalls mache, sagte sie dem RND. „Unsere Aufgabe ist es zu reagieren, wenn eine Lage es erfordert.“
Umfangreiche russische Attacken auf Bahnlinien und Städte in der Ukraine
Mit dem Beschuss soll offenbar verhindert werden, dass weitere Waffen aus dem Westen in die Ukraine geliefert werden können.
© Quelle: dpa
Eine Mobilmachung würde alle russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger treffen, die eine Grundausbildung absolviert haben. „Aus diesem Pool kann Moskau noch viele junge und fitte Soldaten rekrutieren“, so die Einschätzung von Brigadier Eder. Dies betreffe auch Russen, die sich im Ausland aufhalten. „Wenn sie in Belarus oder Kasachstan sind, müssten sie nach Russland zurückkehren, trainieren und dann an die Waffen gehen.“ Unklar ist, wie umfangreich die Generalmobilmachung ausfällt. Sie könnte laut Eder auch die russische Industrie treffen. „Die Rüstungsindustrie müsste mehr produzieren, auch andere Unternehmen müssten Rüstungsgüter herstellen und Waffendepots für den Notfall freigegeben werden.“ Laut dem russischen Gesetz zur Generalmobilmachung drohen schwere Geld- und Haftstrafen für Personen, die sich widersetzen.
Wenn Russland Erfolge in der Ukraine erzielen will, komme Putin gar nicht um eine Generalmobilmachung herum, meinte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. „Russland bekommt langsam das Problem, dass dem Militär das Equipment und die Soldaten ausgehen“, sagte er dem RND. Eine Generalmobilmachung wäre ein weiteres, extremes Signal von Putin: „Damit wäre auch dem Letzten in Russland klar, dass es sich in der Ukraine um einen Krieg handelt, der das ganze russische Volk betrifft.“ An den Westen und die Ukraine würde Putin das Signal senden, dass er für diesen Krieg bis zum Äußersten gehen werde, sagte Kühn.
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