Interview ein Jahr nach Fall von Kabul

Lage in Afghanistan: „Der Westen muss weiter humanitäre Hilfe leisten“

Mütter mit Säuglingen warten auf eine medizinische Untersuchung im Rehabilitationszentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Kabul.

Mütter mit Säuglingen warten auf eine medizinische Untersuchung im Rehabilitationszentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Kabul.

Brüssel. Hannah Neumann (38) ist Konfliktforscherin und sitzt seit 2019 für die Grünen im Europaparlament.

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Frau Neumann, Sie sind als erste und bislang einzige Europaabgeordnete nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gewesen. Was waren Ihre Eindrücke?

Ich glaube, ich bin sogar die einzige Parlamentsabgeordnete aus der EU, die nach dem 15. August vergangenen Jahres offiziell in Afghanistan war.

Woran liegt das?

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Solche Reisen werden von den Botschaften der EU- Mitgliedsstaaten betreut, die sind aber momentan in Kabul nicht besetzt. Nur die EU unterhält ein kleines Verbindungsbüro, das mich unterstützt hat.

Sie waren im April in Kabul, also acht Monate nach der Machtübernahme der Taliban. Was ist Ihnen besonders aufgefallen?

Ich habe nicht mehr viele Frauen auf den Straßen gesehen. Sie sind von den Taliban aus dem Stadtbild verdrängt worden. Das war schon ziemlich erschreckend. Inzwischen ist das noch schlimmer geworden. Die vielen gut ausgebildeten Frauen in Afghanistan dürfen nicht mehr oder nur noch unter völlig inakzeptablen Bedingungen arbeiten. Viele wissen nicht, ob sie am nächsten Tag noch einen Arbeitsplatz haben oder aus welchem Grund sie auf dem Weg von der Sittenpolizei belästigt werden.

ARCHIV - 16.08.2021, Afghanistan, Kabul: Hunderte Menschen laufen neben einer Boeing C-17 der United States Air Force, die auf dem Rollfeld des Kabul International Airport fährt. Zahlreiche Afghanen, die sich nach der Machtübernahme der Taliban in Sicherheit bringen wollen, versuchten auf dem Flughafen in Flugzeuge zu gelangen und blockierten die Landebahn. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben Deutschland und andere westliche Staaten begonnen, in großer Eile ihre Staatsbürger und gefährdete afghanische Ortskräfte auszufliegen. (zu dpa «Fragiler Frieden und zerstöre Träume: ein Jahr Taliban-Herrschaft») Foto: Uncredited/Verified UGC/AP/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung innerhalb der nächsten 72 Stunden und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++

Ein Jahr nach Machtübernahme der Taliban: viel Elend und Menschen, die auf Rettung warten

Am 15. August 2021 rissen die Taliban in Afghanistan erneut die Macht an sich – 20 Jahre nach ihrem Sturz durch den Militäreinsatz des Westens. Heute geht es dem Land schlechter denn je. Und noch immer möchten Helfer der Bundeswehr nach Deutschland, können aber nicht.

Wissen Sie, wie die Taliban Ihren Besuch aufgenommen haben? Es hätte ja sein können, dass sie sich dadurch in gewisser Weise anerkannt fühlen wollten?

Solche Besuche sind natürlich immer eine Gratwanderung. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Taliban hofiert gefühlt haben. Ich habe seit letztem August und auch davor schon klipp und klar meine Meinung gesagt und nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass es nicht in Ordnung ist, wie sie zum Beispiel afghanische Frauen und Mädchen behandeln. Und das habe ich ihnen auch vor Ort ins Gesicht gesagt. Aber es ist auch nicht vollkommen hoffnungslos. Die Taliban sind keine einheitliche Bewegung, sondern innerlich zerrissen. Denken Sie nur an das Versprechen, dass alle Mädchen auch weiterführende Schulen besuchen dürfen, das haben ja viele führende Taliban gegeben. Es wurde dann über Nacht einfach gebrochen.

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Und gleichzeitig erzählen mir hochrangige Taliban, dass sie ihre Töchter nun zu Hause beschulen lassen. Da ist viel Konflikt. Gerade haben die Hardliner die Oberhand. Aber ich hoffe für die Menschen in Afghanistan, dass sich andere Strömungen bald durchsetzen.

Steht Afghanistan angesichts des internationalen Krisenknäuels, in dem wir momentan gefangen sind, noch auf der politischen Agenda der EU und ihrer Mitgliedstaaten?

Bei den Treffen haben mir viele Frauen von ihrer Sorge berichtet, dass sie und ihre Kinder von der internationalen Gemeinschaft vergessen werden. Diese Sorgen sind nicht unberechtigt und unsere Verantwortung hört ja nicht mit dem Truppenabzug auf. Gerade konzentriert sich viel auf die Ukraine. Gleichzeitig kommt in Afghanistan bald wieder der Winter, und es reicht hinten und vorne nicht. Auch deshalb braucht es solche Besuche aus dem Ausland. Wir dürfen die Menschen in Afghanistan nicht der Willkür der Taliban überlassen. Die Menschen dort hungern weiter und sind immer brutaleren Repressalien ausgesetzt. Ich verstehe ihre Sorge sehr gut.

Sollte der Westen nach den Erfahrungen in Afghanistan die Finger vom sogenannten Nation Building lassen?

Ich glaube, dass der Westen schmerzhaft gelernt hat, dass wir nicht einfach von außen in irgendein Land kommen und etwas ganz Neues aufbauen können. Das funktioniert nicht. Wir brauchen einen anderen Ansatz.

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Wir müssen in Zukunft viel stärker lokale Strukturen unterstützen. Schauen, was funktioniert und was man vielleicht ändern muss, wer schon Mitsprache hat und wen man stärken muss. All das ist zwischen 2001 und 2021 in Afghanistan zu wenig geschehen. In allen Krisengebieten gibt es wunderbare Menschen, die sich schon lange für ein friedliches Miteinander einsetzen. Das Problem: Diese Leute sitzen nicht an den Verhandlungstischen. Dort sitzen jene, die auf Waffen setzen, Regionen mit brutaler Gewalt erobert haben. Das müssen wir verändern.

Gerade diese Frauen und Männer waren nicht beteiligt, als sich die Amerikaner und die Taliban an einen Tisch setzten, um einen Waffenstillstand und den Truppenabzug zu verhandeln.

Das war ein großer Fehler. Die Sache ging völlig schief, wie wir heute wissen. Die Gespräche mit den Taliban haben die afghanische Regierung – so problematisch diese auch gewesen sein mag – weiter geschwächt. Und die Zivilgesellschaft blieb komplett außen vor. Jetzt wird das Land von einer kleinen Gruppe Taliban regiert, die zwar gute Kämpfer sind, von Regierungsführung aber keine Ahnung haben. Und darunter leiden die Menschen in Afghanistan massiv.

Die Lage von Frauen und Mädchen hat sich nach der Machtübernahme durch die Taliban eklatant verschlimmert. Was kann Europa konkret tun?

Wir müssen das realistisch sehen. Es wird schwer werden, die Dinge grundsätzlich zu verändern. Es gibt die riesigen Geldtöpfe nicht mehr, mit denen wir in den vergangenen 20 Jahren versucht haben, Probleme zu lösen. Und wir haben auch keine Soldaten mehr vor Ort. Deswegen muss die internationale Gemeinschaft klar und mit einer Stimme sprechen, muss weiter Druck auf die Taliban machen, damit Frauen arbeiten und studieren können. Zudem geht es darum, das bisschen, was noch an Zivilgesellschaft da ist, am Leben zu erhalten. Die kleinen afghanischen Organisationen, die sich um zivile Projekte kümmern, die Menschenrechtsverbrechen dokumentieren, und die Frauenorganisationen – die müssen wir finanziell unterstützen. Und wir müssen dafür sorgen, dass die vielen gut ausgebildeten Frauen trotz Taliban weiter über die Zukunft des Landes mitbestimmen können. Als EU haben wir etwa ein Netzwerk von afghanischen Frauen aufgebaut, das uns bei unseren politischen Entscheidungen berät.

Sie sagten gerade, dass die Taliban gute Kämpfer seien, aber vom Regieren nichts verstünden. Könnte die EU hier den Hebel ansetzen und den Taliban sagen: Wir bringen euch bei, wie man ein Land auch ohne die Kalaschnikow in der Hand regiert. Ihr müsst euch allerdings auch bewegen.

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Es ist schwer, eine De-facto-Regierung zu unterstützen, besser zu regieren, wenn sie eigentlich all das ablehnt, wovon wir glauben, dass man es für eine gute Regierungsführung braucht. Das sind inklusive Strukturen, Mitbestimmung, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit. Und trotzdem müssen wir weiter humanitäre Hilfe leisten und auf die Unterstützung lokaler Projekte setzen.

Das haben mir viele Frauen bei meinem Besuch in Kabul gesagt. Sollte der Westen jetzt aufhören, humanitäre Hilfe zu leisten, dann wären wieder die Frauen und die Kinder am stärksten davon betroffen. Die Taliban aber hätten damit erst mal kaum ein Problem.

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