Experte erklärt: So geht es nach dem Johnson-Rücktritt in Großbritannien weiter
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Großbritanniens Premierminister Boris Johnson kehrt nach einer Kabinettssitzung aus dem Foreign and Commonwealth Office zurück.
© Quelle: Stefan Rousseau/PA Wire/dpa
Herr Sturm, Premierminister Boris Johnson hat heute offiziell seinen Rücktritt erklärt. Er wolle aber noch so lange Premierminister bleiben, bis sein Nachfolger feststeht. Wie geht es jetzt in Großbritannien weiter?
Verschiedene Abgeordnete werden sich in der Parlamentsfraktion zur Wahl stellen. Bleiben zwei übrig, können die Mitglieder abstimmen. In der Zwischenzeit bleibt Boris Johnson im Amt. Es ist wohl geplant, den Parteitag im Herbst als Beginn einer neuen Ära zu inszenieren. Wer neuer Parteivorsitzender beziehungsweise Parteivorsitzende wird und damit eine parlamentarische Mehrheit hinter sich hat, wird umgehend und quasi automatisch von der Königin ernannt und kann maximal bis 2024 regieren.
Gibt es einen klaren Favoriten für die Nachfolge?
Nein, bisher ist noch völlig offen, wer Johnsons Nachfolger wird. Meiner Einschätzung nach hat Ex-Umweltminister Michael Gove Chancen, der am Mittwoch von Johnson gefeuert wurde. Der frühere Schatzkanzler Rishi Sunak wurde ebenfalls lange als möglicher Kandidat für das Amt des Premierministers gehandelt. Aber er ist selbst in einen Finanzskandal verwickelt, und es ist fraglich, ob die Partei auf ihn setzen wird.
Könnte Außenministerin Liz Truss ihm nachfolgen?
Liz Truss wurde immer wieder als Nachfolgerin gehandelt und wäre wohl auch bereit, das Amt zu übernehmen. Aber sie stand bis zuletzt an der Seite von Johnson, sodass sie die nötige Reputation damit verspielt haben könnte. Im Parlament gab es schon die unverhohlene Drohung, wer in Johnsons Kabinett bleibt und nicht zurücktritt, hat keine politische Zukunft mehr. Wer also wie Truss loyal ist, hat kaum eine Chance auf die Parteiführung und damit auch auf das Amt des Premierministers.
Roland Sturm
Roland Sturm ist Politikwissenschaftler und Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist unter anderem Herausgeber der „Zeitschrift für Politik“ und forscht unter anderem zum politischen System in Großbritannien.
Sind auch Neuwahlen eine Option?
Die Labour-Partei fordert das schon lange, aber für die Konservativen ist das ausgeschlossen. Es wäre dumm, wenn die Konservativen jetzt Neuwahlen zulassen würden. Denn sie haben bei der letzten Wahl 80 Sitze dazugewonnen und eine große Mehrheit im Parlament. Eine Neuwahl würde bedeuten, dass ihre Mehrheit deutlich schrumpft oder sie diese verlieren. Bei Neuwahlen hätte Labour laut Umfragen Chancen, die Wahl zu gewinnen – selbst unter dem staubtrockenen Labour-Führer Keir Starmer.
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Professor Roland Sturm ist Politikwissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
© Quelle: Harald Sippel
Wie konnte sich Boris Johnson trotz der Skandale so lange halten?
Er hatte trotz der vielen Skandale die Unterstützung seiner Partei. Der Erdrutschsieg bei der Wahl 2019 hat Johnson beflügelt, nicht zurückzutreten. Aber laut den Umfragen fehlte ihm schon lange der Rückhalt in der Bevölkerung. Er ist nur so lange mit seinen Verfehlungen durchgekommen, weil die Partei darauf gesetzt hat, mit ihm Wahlen zu gewinnen. Die letzten Nachwahlen haben aber schon gezeigt, dass Johnson als Zugpferd ausgedient hat. Die Skandale sind inzwischen für die meisten Briten dermaßen abstoßend, dass selbst konservative Parteimitglieder sich abwenden.
Regierungskrise bei Boris Johnson: Weiterer Minister tritt zurück
Der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson, sein Amt niederzulegen, wächst weiter.
© Quelle: Reuters
Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?
Die aktuelle Pincher-Affäre war die Spitze des Eisbergs: der von Johnson ernannte Fraktionsgeschäftsführer, der volltrunken junge Abgeordnete und andere sexuell belästigt hat, wovon Johnson angeblich nichts wusste. Inzwischen hat aber ein ranghoher Mitarbeiter offengelegt, dass er Johnson darüber schon lange informiert hatte. Die Lügen, die späten Eingeständnisse, dieses immer wiederkehrende Muster war jetzt einmal zu viel. Im von Johnson noch 2022 abgesegneten Verhaltenskodex für Minister ist festgehalten, dass Abgeordnete, die das Parlament belügen, zurücktreten müssen. Daran hat er sich nun selbst mehrfach nicht gehalten. Dieser Grad an Unverträglichkeit ist für die Partei nicht mehr länger auszusitzen.
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