Cem Özdemir: MiniSCHter für Landwirtschaft und Pragmatismus
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/XG4PMLST5VBMXP3MJ4BTOFDGCI.jpg)
Agrarminister Cem Özdemir bei einem Termin zum Thema Moor bei Templin.
© Quelle: IMAGO/photothek
Berlin. Manchmal hat Cem Özdemir so ein Störgefühl. „Das Grüne muss weg“, sagt er dann. Ausgerechnet er, Mitglied bei den Grünen seit über 41 Jahren, einige Jahre Parteichef und seit Dezember Landwirtschaftsminister. Dieses Grüne, Özdemir setzt nach: „Irre macht mich das. Ich bin da wirklich obsessed.“ Besessen also.
In seinen ersten Ministermonaten hat er schon einiges hinter sich gebracht. Er ist mit dem Fahrrad zur Ernennung ins Präsidialamt gefahren, hat auf dem Bauerntag gesprochen, Moore besichtigt, in Kuh- und Schweineställen sowie bei Knoblauchbauern vorbeigeschaut und außerdem in Kiew. An einigen Verhandlungstischen saß er auch, klar.
Und jetzt kommt ihm da so eine Erdbeere in den Weg, mit grünem Stielansatz. Sie liegt auf einem Teller vor dem Minister, als Deko neben einem kleinen pinkfarbenen Berg Erdbeersorbet. Özdemir fixiert den Teller. In der Stuttgarter Volkshochschule hat er gerade ein bisschen Kochen geholfen, ein öffentlicher Termin samt Moderatorin in einer Versuchsküche. Hummus, Ofengemüse – und eben Sorbet. Die Eismaschine hat sich durch den Abend geröhrt, Özdemir hat Zucchini, Auberginen und Paprika geschnitten. Jetzt kann der Nachtisch probiert werden.
„Sen-sa-tio-nell“, lobt der Minister, vier begeisterte Silben.
Und dann ist er wieder beim Erdbeerstiel: „Der Albtraum ist doch, dann fatzt das so runter. Dann hat man’s auf den Klamotten.“ Sage einer, ein Minister habe nicht auch ganz alltägliche Sorgen.
Auf dem Profilbild seines Twitter-Kontos probiert sich Özdemir in einem Fahrradkunststück: stehend auf der Mittelstange, die Hände am Lenker. Es sieht aus, als habe er Spaß. Minister im weißen Hemd oder großes Kind? Es ist eine Art institutionalisiertes Augenzwinkern.
Was die Umfragen sagen
Und das scheint zu funktionieren: In den Umfragen ist Özdemir zu einem der beliebtesten Politiker des Landes aufgerückt, hinter seinen Grünen-Kollegen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock sowie Kanzler Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD. So weit vorne haben sich Agrarminister und Agrarministerinnen selten gefunden. Die von CDU und CSU standen unter Lobbyismusverdacht. Mit den Bauern gab es dennoch regelmäßig Ärger. Renate Künast, die erste Grüne auf dem Posten, war für die Bauern ein Feindbild. Auf dem Bauerntag des Deutschen Bauernverbandes, der alljährlichen Versammlung des größten Lobbyverbandes der Landwirte, wurde sie ausgepfiffen. 20 Jahre ist das her.
Als Özdemir vor ein paar Wochen erstmals bei einem Bauerntag auftrat, saß Künast in der ersten Reihe. Sie ist jetzt agrarpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/J4FNDIZ7XXBPR6G3XNV7VQEMH4.jpg)
Hat sich besser geschlagen als manch Vorgänger: Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) wurde auf dem Bauerntag nicht ausgepfiffen und erntete für einige Witze Lacher.
© Quelle: Foto: Lutz Roessler
Özdemir ließ sich vor der Tür noch mit Bauernpräsident Joachim Rukwied vor einem großen Traktor fotografieren. Niemand buhte, es gab keine Hupkonzerte, keine Sprechchöre. Özdemir, im Anzug mit Krawatte, betrat die Bühne und sagte: Er sei Schwabe, Vegetarier und Grüner. „Man fragt sich, was ist schlimmer?“ Gelächter, Applaus. Wenn er seine Politik nach seinen Ernährungsgewohnheiten ausrichten würde, „würde mir meine argentinische Frau mit dem Steak eins überbraten“, fuhr Özdemir fort. Wieder Lachen und Klatschen. Ein bisschen Selbstironie, ein bisschen Kumpeltour und wieder: das Augenzwinkern. Es funktionierte.
Der Umbauplan
In seiner Rede vermied er das Wort „Agrarwende“, aber ändern will er viel. Laut Koalitionsvertrag sollen in den nächsten acht Jahren 30 Prozent der Landwirtschaft auf ökologisch umgestellt sein, von derzeit 11 Prozent. Das bedeutet: weniger Pestizide, mehr Blühstreifen, weniger Tiere in den Ställen. Arten und Klima sollen geschützt, die Landwirte mehr als 22 Cent vom Supermarkt-Euro für ihr Schweinefleisch bekommen. Bezahlbar sollen Lebensmittel außerdem bleiben. Das Höfesterben will Özdemir zumindest bremsen. Im Schnitt haben in den vergangenen zehn Jahren jedes Jahr 3500 Landwirte aufgegeben. Und als ob das nicht schon schwierig genug wäre, kommt jetzt obendrauf der Ukraine-Krieg, der alles teurer macht, auch Dünger und Diesel für die Landwirte. Und dann wäre da noch die Trockenheit.
Özdemir versucht es mit Pragmatismus: „Es gibt nicht einfach die Guten und die Bösen wie in den alten Western“, sagt er bei den Bauern. In seiner Antrittsrede im Bundestag warnt er vor „Aufregungsökonomie“, in der sich alle gegenseitig hochschaukeln, bis nichts mehr geht.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/AQQSVCO2IZBZNEC4EDHSS3H3GY.gif)
Was passiert, wenn der Golfstrom immer schwächer wird?
Das Golfstromsystem ist schon jetzt so schwach wie seit mindestens einem Jahrtausend nicht mehr. Ob der Klimawandel die Strömung abgeschwächt hat, können Forschende nicht genau sagen. Doch was sie wissen: Künftig wird er dabei eine Rolle spielen – mit erheblichen Folgen für unser Klima.
So hat er es immer gehalten: In den 90er-Jahren hat er als junger Bundestagsabgeordneter die Pizza-Connection mitgegründet, in der erstmals Grünen- und CDU-Politiker versuchten, die Hürden zwischen beiden Parteien zu überwinden. Es galt damals mindestens als exotische Idee.
Ein anderer Ton als früher
Wegen der Kriegsteuerungen hat Özdemir jetzt zumindest einen Teil der ökologischen Vorrangflächen für die Landwirtschaft freigegeben. Es darf zwar nichts angebaut werden. Aber was dort ohnehin wächst, darf als Tierfutter verwendet werden. Und wegen drohender Hungersnöte in der Welt, weil die Ukraine als Kornkammer durch Russlands Krieg gerade zerstört wird, hat der Minister die für den Arten- und Bodenschutz geplante Stilllegung von 4 Prozent der Landwirtschaftsfläche für 2023 ausgesetzt. Umweltschützer werfen ihm vor, dem Druck der Agrarlobby nachgegeben zu haben.
Dazu passt vielleicht, dass Bauernverbandspräsident Rukwied auf dem Bauerntag seine Verbandskollegen ermahnt, nicht auf Obstruktion zu setzen. Man habe gute Drähte ins Ministerium. Es ist ein deutlich anderer Ton als früher, auch wenn andere im Verband wesentlich weniger konziliant unterwegs sind. Özdemir hat sich beeilt, Rukwied auf dessen Hof nahe Heilbronn zu besuchen. Es ist ein Großbetrieb. Wein, Getreide, Zuckerrüben und Kichererbsen hat der Bauernpräsident im Programm. Özdemir durfte Mähdrescher fahren und kommentierte begeistert: „Total spannend – ein Riesengeschoss.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/6RRJF7TZYBBABNF2AWH6UTIJTQ.jpeg)
Bundesagrarminister Cem Özdemir mit Joachim Rukwied, dem Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, auf dessen Getreidefeld.
© Quelle: Bernd Weißbrod/dpa
Rukwied findet, in Zeiten der Krise seien mehr Kompromisse nötig bei der Umstellung der Landwirtschaft – auch weil es so trocken ist. Özdemir kniete sich auf Rukwieds Acker und ließ die vertrocknete Erde durch die Finger rieseln. Er werde beim Schutz der Biodiversität keine Pause machen, verkündete er in die Kamera des ministeriellen Videoteams. „Da würde ich mich versündigen.“
Neben Kumpeltour, Augenzwinkern und Pragmatismus kann Özdemir noch ein Weiteres: große Unbedingtheit vermitteln. Eindringlich wird sein Tonfall dann und in die Sätze mischen sich Superlative. Sen-sa-tio-nell eben.
82 Millionen Ernährungsexperten
Er hat, so heißt es bei den Grünen, sich sehr deutlich für einen Ministerposten beworben. Innen, Außen, Verkehr, das waren die Spekulationen um die Bundestagswahl herum. Özdemir dementierte nicht. Mit all diesen Bereichen hatte er sich bereits beschäftigt. Özdemir bekam das Agrarministerium – und damit brach in der Partei ein kleiner Sturm los. Der fachfremde Realo mit dem Sinn für PR hatte den bisherigen Fraktionschef Anton Hofreiter verdrängt, den etwas rumpeligeren Biologen und vom linken Parteiflügel. Mittlerweile finden sie auf dem linken Parteiflügel, dass Özdemir sich doch ganz gut mache.
Özdemir sagt, der Posten sei ihm „angedient“ worden. „Wir geben dir den schwierigsten Job“, habe man ihm erklärt, erzählt er in der Stuttgarter Volkshochschulküche. Schließlich gebe es in Deutschland nicht nur 82 Millionen Nationaltrainer und ‑trainerinnen, sondern genauso viele Ernährungsexperten und ‑expertinnen. Ganz uneitel klingt das nicht.
Bayerische Landwirte klagen wegen Dürre über schlechten Ertrag
Hitze, Dürre oder Fluten haben bis 2021 mindestens 145 Milliarden Euro an Schäden verursacht, teilten Klima- und Umweltministerium am Montag mit.
© Quelle: Reuters
Aber tatsächlich, auch die Agrarpolitik ist nicht einfach. Vieles spielt sich in der EU ab, dort wird festgelegt, für was es wie viel Geld gibt und unter welchen Bedingungen wo Dünger ausgebracht werden darf. Der Finanzrahmen der EU ist in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) für die nächsten Jahre festgezurrt, viel kann Özdemir da nicht machen. Die Klage der EU gegen die deutsche Düngemittelverordnung hat er versucht abzuwenden, dafür sind jetzt Schutzgebiete neu definiert und die Landwirte mal wieder verstimmt.
Die FDP, der ewige Gegenspieler
Für das breitere Publikum hat sich Özdemir ein paar plakativere Projekte überlegt, aber auch da ist es zäh. „Die Strafbarkeit des Containerns ist absurd“, hatte Özdemir kurz nach Amtsantritt in einem RND-Interview verkündet. Aber das Bundesjustizministerium unter Marco Buschmann (FDP) findet, so einfach lasse sich das nicht ändern. Es geht unter anderem um Eigentumsrechte von Supermärkten.
Ein Haltungslabel für Lebensmittel soll eigentlich noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden: Handel, konventionelle und Ökolandwirte sowie die Koalitionspartner müssen unter einen Hut passen. Özdemirs Vorgängerin Klöckner ist an dem Vorhaben gescheitert. Mittlerweile ist klar, welche Stufen es geben soll. Es gibt auch ein paar Millionen Anschubgeld. Aber die langfristige Finanzierung wackelt. Die FDP hat noch Fragen. Kann sein, dass Özdemir das Ding einfach mal starten lässt. Planungssicherheit für Landwirte, die ihre Ställe umbauen sollen, gäbe es so nicht. Aber Özdemir hätte seine Zusage gehalten.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EZHJQQG67RD4LOGG3ATC7MQUTQ.jpg)
Hauptstadt-Radar
Persönliche Eindrücke und Hintergründe aus dem Regierungsviertel. Immer dienstags, donnerstags und samstags.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Von Berlin in die Stuttgarter Staatskanzlei?
Zusagen halten ist günstig, wenn man Minister ist. Und wenn noch ein anderer Karriereschritt dazu käme, wäre es das erst recht. Ministerpräsident in Baden-Württemberg könnte so einer sein. Der grüne Amtsinhaber Winfried Kretschmann, der die CDU nach Jahrzehnten aus der Staatskanzlei drängte und mit seiner gediegenen Landesväterlichkeit bis tief ins konservative Milieu hinein punktet, ist 74 Jahre alt. Bei der nächsten Landtagswahl 2026 wird er wohl nicht ein drittes Mal antreten.
Es würde die Chancen der Grünen erhöhen, wenn Kretschmann sein Amt vor der Wahl übergäbe, so wie es gerade Volker Bouffier in Hessen gemacht hat. Özdemir gilt als einer der möglichen Nachfolger, genauso wie Landesfinanzminister Danyal Bayaz oder Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz. Bei den Grünen heißt es, letztlich werde die Nachfolgefrage von Kretschmann alleine entschieden.
Bei seiner Ernennung im Präsidialamt war Özdemir sichtbar gerührt: der erste türkischstämmige Minister Deutschlands. Er sieht seinen neuen Posten als Durchbruch für eine ganze Bevölkerungsgruppe und so war es von den Grünen wohl auch gemeint. Ein „Ötzelbrötzel“ im Kabinett, so beschreibt Özdemir das Fremdeln, das er immer wieder spürt. Er war auch der erste Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund, den Begriff „anatolischer Schwabe“ hat er zum Markenzeichen gemacht, Lieblingsspeise Börek und Käsespätzle.
„Ich komm halt von der Alb“
Özdemir wohnt mit seiner Familie in Berlin-Kreuzberg, in Stuttgart hat er ein WG-Zimmer. Seinen Wahlkreis in der Landeshauptstadt hat er vergangenes Jahr erstmals direkt gewonnen, bisher ging der an die CDU. Er macht viele Termine in Baden-Württemberg, das G7-Agrarminister-Treffen etwa im Stuttgarter Schloss Hohenheim. Er lässt ganz gern Dialekt in seine Sätze tropfen: „Minischter“ sagt er dann. Oder: „Heilig’s Blechle!“ Oder: „Besser als in’d Hos’ g’macht!“ – „Ich komm halt von der Alb“, setzt er dann nach.
In der Versuchsküche der Volkshochschule kündigt er an, er werde sich bei der Uno dafür einsetzen, dass die Breze – die Brezel – von der Uno zum immateriellen Kulturgut erhoben wird.
„Dann beißen wir ganz anders in die Brezel rein“, sagt er.
Das kann nicht schaden, auf gar keinen Fall.
Özdemir kündigt finanzielle Hilfe für Tierheime an
Beim Besuch eines Heims in Brandenburg kündigte der Bundeslandwirtschaftsminister finanzielle Hilfen an.
© Quelle: Reuters
Laden Sie sich jetzt hier kostenfrei unsere neue RND-App für Android und iOS herunter.