Die Karriere eines Symbols in China

Die große Macht des leeren Zettels

Ohne Worte: Demonstranten in Peking am 27. November 2022.

Ohne Worte: Demonstranten in Peking am 27. November 2022.

In Nischni Nowgorod werden selten internationale Trends gesetzt. Doch im März dieses Jahres, bei einer kleinen örtlichen Demonstration gegen Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, war es soweit. In der 400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen russischen Stadt wurde eine neue Form des Protests geboren: Widerstand ohne Worte.

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Eine junge Frau hatte beschlossen, einfach mal die Toleranz der Staatsorgane zu testen: Würden Putins Inlandstruppen es hinnehmen, wenn sie vollkommen friedlich ein leeres Stück Papier hoch hält?

Der Test verlief negativ. Die Frau wurde abgeführt.

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Eine Festnahme wegen nichts? Weltweit schüttelten Social-Media-Nutzer angesichts der Videoszenen aus Nischni Nowgorod den Kopf: So weit war Russland also schon gekommen.

Demonstrantin in Nischni Nowgorod, Russland, im März 2022

Demonstrantin in Nischni Nowgorod, Russland, im März 2022

Regimekritiker wiederholten die politische Probe aufs Exempel an anderen Orten in Russland, in Moskau, in Sankt Petersburg, in Rostow am Don. Überall gab es dasselbe Ergebnis. Unter Putins Herrschaft öffentlich ein leeres Blatt Papier zu zeigen ist unmöglich, es wird vom Staatsapparat nicht hingenommen.

In Nowosobirsk entstand ein absurdes Video, in dem Beamte einem jungen Mann in bunter Regenjacke mit bedeutungsvoller Geste erläutern, dass das Zeigen eines leeren DIN-A-Blatts auf „eine illegale Aktivität“ hinauslaufe. Die unfreiwillige Komik ihres Auftritts ging den Uniformierten nicht auf.

Regimekritische russische Aktivisten machten sich hier und da einen Spaß daraus, die präzise Zahl von Sekunden zu stoppen, die zwischen öffentlicher Entfaltung eines leeren Zettels und der Verhaftung vergingen. An zentralen, gut überwachten Plätzen lag die Zahl meist unter 60.

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„Denken Sie, ich werde festgenommen?“

Eine Aktivistin in Moskau probierte es mit einer Variante. Vor das Historische Museum am Roten Platz trat sie mit einem Zettel, auf dem die beiden Wörter „Zwei Wörter“ standen. Das erinnerte an die in Russland verfemte Zwei-Wörter-Parole Njet Wojne, Nein zum Krieg. Doch der Wortlaut war nun mal völlig anders. „Denken sie, ich werde festgenommen?“ fragte die Frau – bevor sie von gleich drei Polizisten gleichzeitig gepackt und zu einem Gefangenenbus gezerrt wurde.

Die schlechte Nachricht für die wegen leerer Zettel vorläufig Festgenommenen lautete: Russland schert sich bei Polizeieinsätzen nicht um juristische Details, sondern räumt erst mal jeden aus der Öffentlichkeit ab, der stört.

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Doch es gibt auch eine gute Nachricht. Auch der Unrechtsstaat Russland schreckt, bislang jedenfalls, davor zurück, aus dem bloßen Hantieren mit weißem Papier eine Straftat zu machen, die Gefängnisstrafen nach sich zieht. Über kurz oder lang kamen die Leute mit weißen Zettel wieder frei. So hatten es auch Juristen in russischen Oppositionskreisen eingeschätzt: Das leere Blatt, war die Daumenpeilung, würde zwar vorübergehend in Untersuchungshaft führen, aber nicht jahrelang in die Strafkolonie.

Der leere Zettel als mildes Mittel des Widerstands und als smarter Beitrag zur Senkung des eigenen strafrechtlichen Risikos: Einschätzungen dieser Art scheinen auch zu Chinas „A4-Revolution“ beigetragen zu haben. Ende November sah man in Peking, Shanghai und Hongkong ganze Straßen voller junger Menschen, die ein unbeschriebenes Blatt in die Höhe hielten.

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Das Drama liegt allein im Auge des Betrachters

Anders als in Russland schien sich die Polizei in China anfangs zurückzuhalten. Inzwischen aber läuft der Repressionsapparat auch hier mit Blick auf die „Blank-Paper“-Bewegung auf Hochtouren. Auch Xi Jinping möchte nicht, dass auf den Straßen und Plätzen seines Landes erneut leere Blätter hochgehalten werden.

Dabei liegt das damit verbundene Drama ausschließlich im Auge des Betrachters. Für liberale Demokratien wären leere Zettel naturgemäß ein Non-Thema: Wer sollte sich darüber aufregen?

China und Russland dagegen werden angesichts von leeren Zettel nervös. Warum? Das von den Demonstranten beklagte Fehlen von Redefreiheit und Meinungsfreiheit in ihren Ländern leugnen China und Russland natürlich. Dabei merken sie gar nicht, dass gerade diese beständige Umkehrung der Wirklichkeit sie erst recht innenpolitisch angreifbar macht: China und Russland haben in ihren Ländern eine orwellianische Szenerie geschaffen, in der das leere Blatt am Ende paradoxerweise als unerhörte Provokation empfunden wird, als aggressive Infragestellung des gesamten Staates

Leere Blätter lassen Protestierende zusammenrücken: Ein chinesischer Demonstrant bekundet seine Solidarität mit allen, die wie er nichts aufs Papier geschrieben haben.

Leere Blätter lassen Protestierende zusammenrücken: Ein chinesischer Demonstrant bekundet seine Solidarität mit allen, die wie er nichts aufs Papier geschrieben haben.

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Leere Blätter sind den Protestierenden nützlich und schaden den Oberen. Sie lassen Regimegegner mühelos zusammenrücken. Und sie schüren – mehr als diese oder jene politische Forderung – die Wut auf der Seite diktatorischer Staatsorgane. Zumal das Zurückschlagen so kompliziert ist: Wollen die Behörden in Russland und China etwa jemanden, in dessen Wohnung man womöglich einen ganzen Stapel leerer A4-Blätter findet, für überführt erklären und als Rädelsführer bestrafen?

Xi und Putin plustern sich auf, sie wollen dem Publikum immer neue Beweise ihrer Stärke zeigen. Mit den leeren Zetteln aber kommen sie schlecht klar. Fällt ihnen nicht auf, dass ihre Sicherheitsapparate bereits angefangen haben, unfreiwillig Szenen eines absurden Theaters mitzuspielen, das ihre Gegner sich ausgedacht haben? So entsteht, wenn zunächst auch nur unterschwellig, der Eindruck von Lächerlichkeit. Nichts nagt auf Dauer stärker an Autorität und Macht von Herrschern aller Art.

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