Deutschland 1972

Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Willy Brandt: Eine Geschichte, die nicht vergangen ist

Für seine Entspannungspolitik geehrt: Willy Brandt.

Bundeskanzler Willy Brandt.

Berlin. Gerhart Baum erinnert sich, als sei es gestern gewesen. „Ich stand damals vor dem Rathaus in Köln und habe miterlebt, wie Menschen sich vor Erleichterung umarmten“, sagt der 89-Jährige, der damals Vorsitzender der FDP-Fraktion im Rat der Stadt Köln war und wenige Monate später selbst in den Bundestag einzog. Die Stimmung sei emotional hoch aufgeladen gewesen, so Baum weiter. Denn er und viele Gleichgesinnte hätten sich die Frage gestellt, ob es weiter in die Zukunft gehe oder eine Rückkehr in die Vergangenheit bevorstehe. Tatsächlich gab es aus demselben Grund bundesweit Massendemonstrationen und Streiks.

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Der besagte Tag ist der 27. April 1972, an dem quasi um die Ecke von Köln – nämlich im Bonner Bundestag – das konstruktive Misstrauensvotum des CDU-Politikers Rainer Barzel gegen den amtierenden SPD-Kanzler Willy Brandt fehlschlug. Zwar ist das 50 Jahre her – aber aus verschiedenen Gründen heute immer noch alles andere als bloß Geschichte.

Dies hat zunächst mit dem Ereignis selbst zu tun. Das konstruktive Misstrauensvotum war spannend wie ein Krimi. Brandt – den viele Menschen wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, seiner Politik und seines sanften Wesens ebenso verehrten wie verachteten – hatte mit seiner sozialliberalen Koalition die so genannte neue Ostpolitik eingeleitet. Sie beruhte auf dem Grundgedanken, dass die alte Bundesrepublik die territorialen und politischen Realitäten in Europa anerkennen müsse, um auf dieser Grundlage zu einer Verständigung mit der DDR und den osteuropäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion zu kommen. Die Realitäten bestanden darin, dass ein Eiserner Vorhang Europa durchzog, dahinter kommunistische Diktaturen herrschten und ehemalige deutsche Ostgebiete in Polen und Tschechien verloren waren. Die Devise lautete: „Wandel durch Annäherung“.

Verdacht: Politische Korruption

Aus Protest gegen diese Politik wechselten Parlamentarier von SPD und FDP zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion – mit der Folge, dass die Opposition und die Regierungsfraktionen plötzlich gleich viele Sitze im Parlament hatten und Brandt sich nicht mehr auf eine Regierungsmehrheit stützen konnte. Unter denen, die wechselten, war der SPD-Abgeordnete und Vorsitzende der Schlesischen Landsmannschaft, Herbert Hupka, der hinterher je länger, desto mehr als Revanchist galt.

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Die Wechsel ermutigten Barzel, im Bundestag eine Abstimmung einzuleiten – mit dem Ziel, dass er Brandt das Misstrauen ausspricht und ihn zum Kanzler wählt. Nur: Der Versuch scheiterte. Der CDU-Politiker bekam statt der erforderlichen absoluten Mehrheit von 249 nur 247 Abgeordnetenstimmen. Unter anderem der Christdemokrat Julius Steiner votierte nicht für Barzel. Später wurde bekannt, dass Steiner dafür 50.000 D-Mark aus Quellen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR erhalten hatte. Er gab an, das Geld vom Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Wienand, bezogen zu haben – einem Vertrauten von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner. Wie auch immer: Es ging um politische Korruption, wie sie das Land selten gesehen hat.

1974 trat Brandt übrigens zurück. Die DDR hatte einmal mehr ihre Hand im Spiel. Sie hatte mit Günter Guillaume einen Spion des Ministeriums für Staatssicherheit im Umfeld des Kanzlers platziert.

Interessant ist das gescheiterte konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 Grundgesetz ebenfalls aus staatspolitischer Perspektive. „Das Instrument hat sich bewährt“, sagt der Liberale Gerhart Baum, der 1978 zum Bundesinnenminister aufstieg. Baum sagt das, obwohl er darunter zehn Jahre darauf selbst politisch zu leiden hatte. Denn im Herbst 1982 stürzte Unionsfraktionschef Helmut Kohl in einer politisch ähnlich aufgeheizten Lage mit demselben Instrument den Brandt-Nachfolger im Kanzleramt und Sozialdemokraten Helmut Schmidt. Die FDP-Spitze lief zu Baums Missvergnügen zur Union über, die sozialliberale Koalition war zu Ende.

Entscheidend aber war, dass die politische Stabilität der Republik erhalten blieb. Das konstruktive Misstrauensvotum sichert nämlich, dass ein alter Kanzler vom Hohen Haus lediglich gestürzt werden kann, wenn gleichzeitig ein neuer Kanzler ins Amt kommt. So wird ein Machtvakuum vermieden. Die zweite Möglichkeit, die das Grundgesetz für einen vorgezogenen Machtwechsel vorsieht, sind Neuwahlen.

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Bemerkenswert erscheint der 50. Jahrestag des konstruktiven Misstrauensvotums von 1972 in der Rückschau schließlich deshalb, weil es seinerzeit um eine Frage ging, die sich 2022 abermals mit Vehemenz stellt - nämlich: Wie verhält sich die jetzt vereinigte Bundesrepublik angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine zu Osteuropa beziehungsweise zu Russland?

Streit um die Ostpolitik

Manche in der SPD verweisen erneut auf die neue Ostpolitik Willy Brandts. Sie wollen den Ausgleich suchen und verhandeln, um den Krieg zu stoppen. Gerhart Baum widerspricht. „Wir haben damals etwas anderes gemacht als die Russland-Versteher heute“, sagt er. Es sei nach der Barbarei des Nationalsozialismus vielmehr darum gegangen, einen Schlussstrich zu ziehen und eine Brücke nach Osten zu bauen. „Die DDR war damals Hauptgegner, und wir haben sie anerkannt.“

„Heute würden sich Willy Brandt und Walter Scheel (der damalige Außenminister der FDP) so verhalten wie Annalena Baerbock, Robert Habeck oder Christian Lindner“, fährt Baum fort. Sprich: Sie würden dem Aggressor Russland hart entgegentreten. Überhaupt müsse man jetzt den Westen stärken. „Ohne den Westen hätten wir die Kraftanstrengung einer neuen Ostpolitik niemals machen können“, glaubt der Liberale. „Das hat mich dazu gebracht, die Nato immer positiv zu sehen. Ohne Nato hätte es keine Wiedervereinigung gegeben.“

So gesehen ist das konstruktive Misstrauensvotum von 1972 unter dem Strich ein neuer Beleg für die Richtigkeit des Satzes, den der amerikanische Schriftsteller William Faulkner einst schrieb. Er lautet: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“

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