Sie ließen alles in der Ukraine zurück

Eine Familie über ihre Flucht: „Wir hatten 20 Minuten, um zu packen“

Die neunköpfige ukrainische Familie mit Lisa (7,r-l) Luda, Alona, Cenia, Zwillinge Jewa und Kira (13), Oma Valentina, Vita und Christina (13) sitzt in der Ferienwohnung der Spenglers in Bad Düben (Sachsen).

Die neunköpfige ukrainische Familie mit Lisa (7,r-l) Luda, Alona, Cenia, Zwillinge Jewa und Kira (13), Oma Valentina, Vita und Christina (13) sitzt in der Ferienwohnung der Spenglers in Bad Düben (Sachsen).

Bad Düben. Im Haus der Familie Spengler in Bad Düben sieht alles ganz normal aus. Oma Valentina (68) sitzt an einem großen Holztisch und dreht ein paar Puzzleteile in den Fingern. „Malerische Landschaften“ sollen aus 1000 Teilen entstehen, verkündet die Verpackung. Daneben liegt die siebenjährige Lisa auf der Couch und findet irgendwas in einem Handy spannend. Aber normal ist hier gar nichts, im Gegenteil: Es ist eine absolute Ausnahmesituation.

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Valentina und Lisa sind zwei von neun geflüchteten Frauen und Mädchen aus der Ukraine, die in der großen, nagelneuen Ferienwohnung der Spenglers Zuflucht gefunden haben. Sie gehören alle zu einer Familie, Valentina ist die „Babuschka“, die Großmutter, Urenkelin Lisa ist die Jüngste. Für Madlen Spengler (75) und ihre Tochter Nicole Großmann (45), die im Erdgeschoss des Hauses eine Physiotherapie-Praxis betreiben, stand praktisch auf der Stelle fest, dass sie helfen werden.

Viel Aufhebens darum wollen Großmann und Spengler nicht machen. „Das ist doch ganz normal“, sagt Großmann. „Ich habe auch drei Kinder. Ich stelle mir vor, wenn mir das passieren würde. Dann würde ich mir doch einfach nur wünschen, dass mir jemand helfen würde.“ Als die Stadt Bad Düben vor ungefähr zwei Wochen Unterkünfte suchte, meldeten sie sich.

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Familie berichtet von der Flucht: „Wussten nicht, wohin wir gingen“

Am Sonntag, den 6. März, sei die neunköpfige Familie angekommen. Die Frauen hätten kaum etwas dabei gehabt, ein paar Taschen, Papiere - das wars. Aljona (27), die Mutter von Lisa, erzählt von der Flucht. Sie spricht Ukrainisch, Russisch, ein wenig Englisch. Irgendwie klappt die Verständigung, auch und vor allem mit Hilfe von Übersetzungs-Apps. „Wir hatten 20 Minuten, um zu packen“, erzählt sie. Wo sind ihre Männer und Söhne? „Sie verteidigen die Stadt.“

Die Familie stammt aus Jahotyn, einer Kleinstadt mit 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Bezirk (Oblast) Kiew. Aljona zeigt auf ihrem Handy Fotos von einer brennenden Schule in Jahotyn. Eine der Töchter von Babuschka Valentina habe die Flucht organisiert. Aljona nimmt wieder das Handy und zeigt einen völlig überfüllten Bahnsteig in Kiew, dann den Zug, mit dem sie ihre Heimat verlassen haben. In der Tür inmitten einer Menschentraube steht ein Soldat mit Maschinengewehr.

Auch der Zug sei überfüllt gewesen, dicht an dicht hätten sich die Menschen gedrängt, erzählt Aljona und macht nach, wie jemand steht, der im Gewühl feststeckt. So kamen sie an die ukrainisch-polnische Grenze. Warum es von dort weiter nach Deutschland und in die nordsächsische Kleinstadt Bad Düben kann, kann Aljona nicht erklären. „Wir wussten nicht, wohin wir gingen“, übersetzt ihr Handy immer wieder. Sie waren nie zuvor in Deutschland und kennen hier auch niemanden.

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Große Hilfsbereitschaft in Bad Düben

Wie die Familie zu den Spenglers kam, weiß Barbara Paul. Sie arbeitet im Sachgebiet Soziales bei der Stadt Bad Düben und ist eine derjenigen, die sich um die Geflüchteten kümmert. Nach Ausbrauch des Krieges in der Ukraine habe ein Busfahrer aus der Region Spenden gesammelt. „Es kam so viel zusammen, dass es ein richtiger Buskonvoi an die Grenze geworden ist“, berichtet Paul. „Und dann hat er gefragt, ob wir den Bus auf der Rückfahrt nicht mit Flüchtlingen füllen wollen.“

In der Oberschule in Bad Düben haben die Kinder Jewa (l-r), Christina und Kira aus der Ukraine zur Begrüßung kleine Zuckertüten mit Süßigkeiten bekommen.

In der Oberschule in Bad Düben haben die Kinder Jewa (l-r), Christina und Kira aus der Ukraine zur Begrüßung kleine Zuckertüten mit Süßigkeiten bekommen.

Alles passiert ziemlich spontan und ziemlich improvisiert, aber es läuft. Die Stadt machte sich auf die Suche nach Unterkünften. Bad Düben liegt in einer Urlaubs- und Freizeitregion. „Wir haben hier sehr viele Ferienhäuschen und -wohnungen“, sagt Paul. 60 Menschen aus der Ukraine konnte Bad Düben so auf eigene Faust unterbringen, noch bevor das Land Sachsen seine Strukturen geregelt hatte.

Paul meint, dass es die frühen Flüchtlinge sicher gut gehabt haben, sofern in so einer Situation etwas gut genannt werden kann. Laut Landesdirektion kommen immer mehr Geflüchtete in Sachsen an. Die großen Städte haben längst angefangen, Hallen mit Notbetten als Unterkünfte zu nutzen. Bis Mitte der Woche waren laut Innenministerium mehr als 3000 Ukrainerinnen und Ukrainer in den Erstaufnahmeeinrichtungen registriert worden. Wie viele Menschen zusätzlich privat untergekommen sind, weiß nach wie vor niemand so genau.

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„Wenn der Krieg aufhört, gehen wir zurück“

Auch in Bad Düben sind noch ganz viele Fragen offen. Spengler und Großmann wissen nicht, wie lange die ukrainische Großfamilie noch bei ihnen bleiben wird. Eine finanzielle Unterstützung für ihren Einsatz haben sie bisher nicht bekommen. Das stehe aber auch nicht im Vordergrund, sagt Madlen Spengler. „Es wird sich regeln, ganz sicher.“ Sie freut sich, dass die Stadt für die Ukrainerinnen ein bisschen Alltag organisiert. Die Kinder sind inzwischen in der Schule angemeldet, können in den Tanzverein und zum Volleyball gehen.

Laut Barbara Paul soll die Großfamilie nicht auf Dauer bei Spenglers wohnen. Und auch die anderen Menschen sollen nicht in den schnell beschafften Ferienobjekten bleiben. Der zuständige Landkreis Nordsachsen werde Wohnungen anmieten. Auch die große Frage nach dem Geld werde derzeit noch geklärt. Die Ukrainer können Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Bisher hätten sie einen Vorschuss vom Landratsamt von 100 Euro pro Erwachsener und einige ausgezahlte Spenden bekommen.

Aljona kann zu ihrer Zukunft kaum etwas sagen. „Wenn der Krieg aufhört, gehen wir zurück.“ Aber wann wird das sein? Madlen Spengler sagt, Valentina, Aljona, Lisa und die anderen könnten bleiben, solange es erforderlich sei. „Sie haben in der Wohnung alles, was sie brauchen. Und das ist auch notwendig. Sie haben so viel Schmerz in sich, das muss man ein kleines bisschen versuchen, zu dämpfen.“

RND/dpa

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