„Ich bin jetzt ein doppelter Flüchtling“: Warum eine Russin vor Moskaus Aggressionen flieht
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Flüchtlinge in der ukrainischen Stadt Shehyni, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, bilden eine Schlange, als sie sich der Grenze zu Polen nähern. Allein im ukrainischen Nachbarland Polen sind nach Angaben des Grenzschutzes seit Kriegsbeginn rund 964.000 Flüchtlinge angekommen.
© Quelle: Daniel Cole/AP/dpa
Budapest. Für Olena fühlt es sich an, als werde sie seit Jahren vom russischen Präsidenten Wladimir Putin verfolgt. Weil sie die Nase von Putins Regierung voll hatte, verließ die Russin ihre Heimat vor sechs Jahren und zog in die Ukraine. Dort half sie, Geld für Frauen und Kinder zu sammeln, deren Wohnungen und Häuser bei den jahrelangen Kämpfen zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten in der Donbass-Region zerstört wurden.
Vergangene Woche nun ergriff sie erneut die Flucht, diesmal aus ihrer Wahlheimat Kiew vor Putins Invasoren. „Ich bin jetzt ein doppelter Flüchtling, denn zuerst bin ich aus Russland geflohen, weil ich gegen Putin war“, sagt Olena, die aus Furcht vor Repressalien gegen sich oder ihre Familie nur ihren Vornamen genannt sehen will. „Ich bin aus Russland geflohen, und dann ist Russland in die Ukraine gekommen.“
Olena und fünf ihrer Kolleginnen verließen Kiew nach drei Nächten in einem Luftschutzkeller, in dem der Widerhall von Explosionen zu hören war. Nach einer dreitägigen, aufreibenden Flucht kam die Gruppe am Donnerstag in Ungarn an.
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„Putin wird einfach regieren, solange er lebt“
Während sie in der Grenzstadt Zahony im Zug sitzt und auf die Abfahrt nach Budapest wartet, berichtet Olena, sie habe in Russland an Anti-Putin-Protesten teilgenommen. Aber dann sei ihr klar geworden: „Putin wird einfach regieren, solange er lebt. Also habe ich beschlossen, mit den Füßen abzustimmen und zu gehen.“
Sie sei in die Ukraine gezogen, weil die Maidan-Revolution 2014 sie inspiriert habe. Damals führten anhaltende Proteste zum Sturz des von Moskau unterstützten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. „Solange Putin an der Macht ist, werde ich nie zurückgehen“, sagt sie.
Doch nun ist auch die Ukraine keine Option mehr, weder für sie noch für die Hunderten anderen Flüchtlinge im Zug Richtung Budapest. Nach der fünfstündigen Fahrt von der Grenze werden sie von Dutzenden Freiwilligen in Empfang genommen, die ihnen Essen, Fahrgelegenheiten und Unterkunft anbieten.
Ukraine sperrte die Bankkonten russischer Bürger
Olena ist dankbar, in Sicherheit zu sein, aber die Zukunft ist ungewiss. „Ich habe kein Zuhause, ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich muss einfach hoffen“, sagt sie.
Den Zugriff auf ihr Geld hat sie verloren, nachdem die Ukraine die Bankkonten russischer Bürger gesperrt hat. Kiew befürchtete, das Geld könnte zur Finanzierung des russischen Angriffs verwendet werden. Sie verstehe die Gründe ja, sagt Olena. „Aber ich bin nur eine Zivilistin. Ich habe gerade all mein Einkommen verloren, ich habe all meine Geldquellen verloren, und ich habe mein Bankkonto verloren, nur wegen dieses russischen Passes“, sagt sie.
Der Pass habe ihr auch auf der Reise von Kiew Probleme bereitet, sagt sie. Einige Ukrainer hätten sich feindselig geäußert und sie mit dem Feind in Verbindung gebracht. Viele Russen im In- und Ausland seien aber gegen den Krieg. Sie wünsche sich, dass die Menschen zwischen der Regierung und normalen Leuten, die nicht kämpfen wollen, unterscheiden würden.
„Putin ist der wahre Feind“
„Die Ukrainer sind wie ein Brudervolk“, sagt sie. „Wir können nicht untereinander kämpfen. Putin ist der wahre Feind. Als Putin an die Macht kam, mochte ich ihn nicht, aber ich habe das ganze Ausmaß seines Irrsinns nicht erkannt.“
Am Donnerstag bekamen Olena und ihre Kolleginnen eine Unterkunft in einem Budapester Vorort mit vielen Grünflächen. „Wir hören keine Explosionen mehr. Wir hören keine Sirenen alle zwei Stunden, wenn wir unsere Sachen packen und in den Luftschutzkeller rennen müssen“, sagt Olena. „Als wir die Grenze überquert haben, war das solch eine Erleichterung, dass wir am Leben und in Sicherheit sind.“
RND/AP