Zweifel unerwünscht: Frankreich sieht die Atomkraft als „historische Chance“
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Das Atomkraftwerk in Flamanville in der Normandie.
© Quelle: Charly Triballeau/AFP/dpa
Paris. Es ist ein Satz, den Emmanuel Macron in den vergangenen Monaten bei mehreren Gelegenheiten wiederholt hat: „Die Nuklearenergie ist Frankreichs historische Chance.“ Ein Satz, mit dem sich der französische Präsident in eine Reihe mit seinen Vorgängern stellte, die seit den 1950er-Jahren auf den Ausbau der Atomkraft setzten. Mit Ausnahme des Sozialisten François Hollande, der den Nuklearanteil im französischen Energiemix von 70 auf 50 Prozent senken wollte, schärften sie den Bürgern stets ein, dass es keine bessere und günstigere Alternative für die Energieerzeugung gebe. Gerade erhielt Atomstrom vor allem auf Macrons Betreiben hin das Ökosiegel bei der EU-Taxonomie, die nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten als solche klassifiziert.
Weltweit verfügen nur die USA über einen größeren Atompark. In Frankreich gibt es in der aktuellen Situation viel Kritik an Deutschland, das sich zu abhängig von russischem Gas gemacht habe und auf stark verschmutzende Kohlekraftwerke setze. Dabei soll angesichts drohender Engpässe auch in Lothringen ein seit März geschlossenes Kohlekraftwerk im Herbst nochmals öffnen.
Die Probleme der landeseigenen Atombranche werden in der französischen Öffentlichkeit wenig thematisiert – Zweifel am vor Jahrzehnten eingeschlagenen Kurs sind unerwünscht. Dabei stehen derzeit 30 der 56 Reaktoren still. Diese werden gewartet, wiesen Risse oder Korrosionen auf oder mussten aufgrund der Hitze heruntergefahren werden, um das zur Kühlung verwendete Wasser nicht in die derzeit ohnehin erhitzten Flüsse zurückzuleiten. Ausgerechnet in der aktuellen Krisensituation wird die französische Stromproduktion 2022 die niedrigste seit 30 Jahren sein, so die Prognosen.
Strommarkt unter Druck
Auch deshalb dürfte sich der Schuldenberg des Energiekonzerns Électricité de France (EDF) bis Jahresende auf mehr als 60 Milliarden Euro belaufen, bei einem Umsatz von 85 Milliarden. Aufgrund von vertraglichen Verpflichtungen exportiert Frankreich im Sommer Elektrizität zu vorher vereinbarten, günstigen Tarifen in Nachbarländer, muss aber durch den Ausfall eigener Reaktoren zugleich teuer importieren. Das setzt den europäischen Strommarkt zusätzlich unter Druck.
Angesichts der Inflation verpflichtete der Staat EDF seit vergangenem Herbst dazu, konkurrierenden Privatanbietern Stromanteile zu Niedrigtarifen zu verkaufen, um die Preissteigerungen für die Haushalte unter 4 Prozent zu halten. Darüber hinaus gerät der Bau des modernen Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) in Flamanville in der Normandie zum Desaster, der sich um viele Jahre verzögert und laut Rechnungshof statt der veranschlagten 3,3 Milliarden Euro 19,1 Milliarden kosten soll.
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Neue Debatte über Kernkraft – international geht der Trend zum Minireaktor
In den USA denken immer mehr Umweltschützer um und werben für Nuklearenergie – aus Sorge ums Klima. Eine Firma aus Oregon bastelt an neuen technischen Lösungen: SMR, small modular reactors, die auf einen Schwerlaster passen. In Großbritannien dagegen sieht eine alte Firma in SMR ein neues Geschäftsfeld: Rolls-Royce.
Um sich die volle Kontrolle über die Stromproduktion zu sichern, kündigte die Regierung Anfang Juli an, EDF wieder komplett zu verstaatlichen. Seit der Teilprivatisierung und dem Börsengang 2005 befand sich der Energieriese nur noch zu 84 Prozent in Staatsbesitz. 9,7 Milliarden Euro soll die Übernahme kosten. Allerdings haben die EDF-Mitarbeiter unter den Aktionären angekündigt zu klagen, da ihnen ein Kaufpreis von 12 Euro angeboten wurde – 2005 war eine Aktie 32 Euro wert. Indem EDF von der Börse geht, entzieht es sich dem Radar von Ratingagenturen und bestimmten Transparenzregeln.
Trotz kilometerlanger Küste keine Offshore-Windparks
Vor allem könne es nur mit staatlicher Hilfe die anstehenden Investitionen stemmen, sagt Nicolas Goldberg von der Beratungsagentur Colombus Consulting: „Kein börsennotiertes Unternehmen wäre in der Lage, einer solchen Anstrengung standzuhalten.“ Tatsächlich hat Macron angekündigt, mindestens sechs weitere Atomkraftwerke vom Typ EPR bauen zu lassen. Die Kosten schätzen die zuständigen Ministerien auf bis zu 64 Milliarden Euro.
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Kritiker monieren, dass die Reaktoren frühestens 2037 ans Netz gehen könnten. Zwar möchte Macron zugleich die erneuerbaren Energien massiv ausbauen. Er hat jährlich 10 Milliarden Euro für den ökologischen Wandel versprochen, unter anderem für den Ausbau von 50 Offshore-Windparks. Obwohl Frankreich über kilometerlange Küsten verfügt, gab es bislang keinen einzigen. Als einziges EU-Land lag Frankreich 2020 mit 19 Prozent erneuerbarer Energie hinter seinem Ziel von 23 Prozent zurück. Der Akzent lag ganz auf der Atomkraft.
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