„Fürchtet uns, Leute!“ Russland diskutiert über Kriegsverbrechen – aber anders als wir
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War seine Kriegsführung bislang nicht brutal genug? Russlands Präsident Wladimir Putin – hier in einer Aufnahme, die am 15. September 2022 am Rand einer internationalen Konferenz in Samarkand entstand.
© Quelle: IMAGO/SNA
Im staatlichen Fernsehkanal Rossija 1 erschien dieser Tage ein Experte und erklärte, wie der Sieg Russlands in der Ukraine trotz aller aktuellen Schwierigkeiten doch noch zu erringen sei. Alles hänge im Grunde nur an einer einzigen simplen Frage, sagte Putin-Propagandist Alexey Anpilogov: „Wie schnell können wir die gesamte zivile Infrastruktur der Ukraine vernichten?“
In der Talkshow gab es keinen Widerspruch. Seit vielen Tagen heißt es in diesen Runden immer wieder, wenn erst Millionen ukrainische Familien in Dunkelheit und Kälte säßen, abgeschnitten von jeder Versorgung, würden sie die Dominanz Russlands schon noch akzeptieren. Nötig sei, sagte die Chefredakteurin von Russia Today, Margarita Simonjan, schon zu Beginn des Monats, die Zerstörung der zivilen Infrastruktur „im noch nicht befreiten Teil der Ukraine“.
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Zwar wissen auch die Rossija-1-Diskutanten, dass jede gezielte Zerstörung etwa von Elektrizitätswerken, Wohnvierteln, Gleisen, Straßen, Staudämmen, Einkaufszentren, Schulen und Krankenhäusern ein Kriegsverbrechen ist. Doch das ist ihnen egal. Denn, so die neue krude Logik in Moskau, es ändere ja inzwischen nichts mehr. „Schon jetzt werden wir Russen doch dargestellt als eine einzige Horde von Barbaren“, betont Anpilogov.
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Der Präsident und seine Propagandistin: Wladimir Putin ehrt Margarita Simonjan, Chefredakteurin von Russia Today.
© Quelle: picture-alliance / dpa
„Fürchtet uns, Leute!“
Warum dann also den Spieß nicht einfach umdrehen? Ähnlich argumentierte im Staatsfernsehen der russische Kriegskorrespondent Vladlen Tatarsky, der seinem Land rät, sich zu Folter und Gräueltaten offen zu bekennen: „Wir sollten unseren Feinden sagen: Ja – so sind wir! Fürchtet uns, Leute!“
Wenn Russland in nächster Zeit mehr zivile Ziele in der Ukraine unter Beschuss nehme, gibt Anpigolov zu, werde dies international natürlich zu neuen Vorwürfen führen. Aber: „Dieser Weg ist der Weg zum Sieg.“
Einige Vorkommnisse aus der vergangenen Zeit sprechen dafür, dass die russische Armee in der Tat dazu tendiert, sich auf ein neues Hauptziel einzuschießen: Maximierung des Leids von ukrainischen Zivilisten durch Herbeiführen einer akuten Energiekrise:
- Die erste Antwort Russlands auf die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Truppen zielte nicht etwa auf die ukrainische Armee, sondern auf das Leben von Millionen von Zivilisten in Charkiw und Umgebung. Russland zerstörte mehrere Kraftwerke in der Region, sodass Millionen Menschen zeitweise nicht nur im Dunkeln saßen, sondern, wenn sie von elektrischen Pumpensystemen abhingen, auch ohne Wärme und Wasser auskommen mussten.
- Einen Tag später bombardierte Russland in der zentralukrainischen Industriestadt Krywyj Rih einen Staudamm – mit dem gewünschten Effekt: Die Flutwelle schuf ebenfalls, wie in Charkiw, eine großflächige Notlage für Zivilistinnen und Zivilisten, mit Ausfällen bei Strom und Wasser.
- In der Nacht zum Montag feuerte Russland Raketen auf Hochspannungsleitungen wenige Hundert Meter vor dem AKW Piwdennoukrainsk. Moskau will auf diese Art offenbar das Herunterfahren des Meilers und damit weitere Stromausfälle bewirken. Mindestens aber soll wohl, wie in Saporischschja, die Angst vor einer nuklearen Katastrophe gesteigert werden.
Putin holt Massenmörder an die Front
Westliche Militärexperten versuchen derzeit, die neuen Zeichen aus Russland zu deuten. Attacken auf zivile Ziele leistete sich Putins Truppe von Anfang an. Soll jetzt aber die Brutalität gegenüber der wehrlosen Zivilbevölkerung mehr Gewicht bekommen – nachdem das Kräftemessen mit den militärischen Profis der Ukraine für Moskau mehr als peinlich ausging?
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Manche sagen, der russische Staatschef wolle inzwischen nur noch Angst und Schrecken verbreiten, militärische Erfolge oder Misserfolge im engeren Sinne seien ihm gleichgültig. Für diese Deutung spricht, dass Putin immer wahlloser wird in der Auswahl seiner Truppen. Bereits seit Monaten lässt er auch Häftlinge rekrutieren, rund 30.000 Schläger, Diebe und Vergewaltiger sollen schon unterwegs sein an die Front. Neuerdings werden auch verurteilte Mörder als russische Soldaten aufgeboten und, teils mit Blaulicht in gesicherten Transporten, an die Front gefahren: Wer sich im Einsatz bewährt, soll seiner Strafe entgehen.
Das extreme Beispiel des 34-jährigen Schwerverbrechers Ivan Neparatov fand auch in westlichen Medien Aufmerksamkeit: Der Mann hatte immerhin bereits fünf Menschen ermordet, bevor Putins Behörden ihn motivierten, gegen die Ukraine zu Felde zu ziehen. Dort allerdings fand er schnell den Tod.
„Solche Leute sind Kanonenfutter“, sagt der deutsche Militärexperte Nico Lange, bis Ende 2019 Chef des Leitungsstabs im Berliner Verteidigungsministerium, im Gespräch mit dem RND. Die Ukraine habe an den neuen Fronten eine Situation geschaffen, in der Russen ohne gute militärische Ausbildung keine hohe Lebenserwartung hätten. Die Rekrutierung von Strafgefangenen zeige, dass Russland personell bereits an Grenzen gekommen sei. Eine Generalmobilmachung indessen werde Putin nicht durchsetzen können: „Die beiden innenpolitisch entscheidenden Regionen, Moskau und St. Petersburg, spielen da nicht mit.“
Putin: Haben es in der Ukraine nicht eilig
Russland habe es nicht eilig, seine „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine zu beenden, sagte Präsident Wladimir Putin am Rande eines Mehrstaatengipfels.
© Quelle: Reuters
„Zeichen wachsender Schwäche Moskaus“
Auch in den aktuellen Rufen nach mehr Grausamkeit im russischen Staatsfernsehen sieht Lange „ein Zeichen wachsender Schwäche Moskaus“. Russland, das immer an seine angeblich professionelle Armee geglaubt habe, erlebe jetzt mehrere Tiefpunkte gleichzeitig.
Erst sei das Land nicht in der Lage gewesen, sich der ukrainischen Gegenoffensive zu erwehren, nun empfehle das Staatsfernsehen als Ausweg die systematische Begehung von Kriegsverbrechen. Beides werde nicht nur von Kriegsgegnern als jämmerlich empfunden, sondern auch von rechtsgerichteten Kritikern Putins.
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"Russland erlebt jetzt mehrere Tiefpunkte gleichzeitig": Militärexperte Nico Lange.
© Quelle: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)
In der russischen Armee wächst nach Erkenntnissen westlicher Experten die Unzufriedenheit derzeit immer weiter. Die angesehene Washingtoner Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) spricht in jüngsten Lageeinschätzungen von einer „schlechten Beziehung“ zwischen Putin und dem russischen militärischen Oberkommando.
Für Verdruss bei den russischen Regulären, analysiert das ISW, sorge Putin persönlich: indem er immer mehr irreguläre Kampfverbände ins Spiel bringe, statt auf Einheiten der Streitkräfte der Russischen Föderation zu vertrauen. Putin gefällt es, gleich an mehreren Strippen gleichzeitig zu ziehen. Mit Spezialoperationen in der Ukraine beauftragt er mal die russische Söldnerfirma Wagner, mal Spezialeinheiten russischer Sicherheitsdienste, mal auch Ad-hoc-Kampfgruppen mit zusammengewürfelten Männern aus den besetzten Gebieten.
Das ISW sieht hier Probleme für die Koordination und die Kampfkraft auf russischer Seite: Zu rechnen sei mit „Spannungen, Ungleichheiten und einem allgemeinen Mangel an Zusammenhalt“.
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