Die ganz entspannt lahmgelegte Republik
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Der Berliner Hauptbahnhof war mitten am Tag fast seelenleer.
© Quelle: Getty Images
Potsdam/Berlin/Hannover. Um kurz nach 8 Uhr morgens wird es für ein paar Minuten laut am sonst gespenstisch stillen Frankfurter Hauptbahnhof. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter führen vor dem Bahnhofsgebäude ein Protestkonzert mit Tröten und Ratschen auf. In der großen leeren Eingangshalle beobachtet hinter den Glastüren eine etwas verschreckte fünfköpfige japanische Reisegruppe die Demo der Streikenden. Für einen ganztägigen, bundesweiten Großstreiktag wollten die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Republik lahmlegen. Bereits am Sonntagabend zeichnete sich ab: Es würde ihnen gelingen. Je später der Abend wurde, desto öfter stand „Zug fällt aus“ in der Fahrplanauskunft, desto mehr Bilder kursierten bereits von Streikposten vor ICE-Betriebswerken und Busdepots. Die Gewerkschaften spielen genussvoll ihre Macht aus. Und sie sind laut.
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Der Tröten- und Ratschenlärm, die Fahnen und die knallorangefarbenen Westen: Das alles ist den Japanern nicht geheuer. „We do not understand“, sagt die Älteste des Quintetts. Sie wollen zum Flughafen. „But there is no train.“ Dass auch Deutschlands größter Flughafen den Betrieb eingestellt hat, wissen sie nicht. Vergeblich suchen sie nach einem Taxi. Die Taxis verbergen sich hinter einem hohen Bauzaun am Bahnhofsvorplatz. Die Fahrer warten, doch außer einer Frau mit Kind und Kinderwagen ist da niemand, der gefahren werden will.
Ob in Frankfurt, Berlin, Göttingen, Kiel oder Hannover – überall das gleiche Bild: Wer als Taxifahrer auf einen Streikprofit gewartet hat, wird enttäuscht. Gestrandete gibt es an diesem Montag kaum. Megastaus auf den Ausfallstraßen und Autobahnen: fast überall Fehlanzeige. Wo Stadt- und Straßenbahnen und Busse fuhren, waren sie vielerorts – mit der Ausnahme der Metropolen – nicht voller als üblich. Die Republik ließ sich ganz entspannt lahmlegen. Und Verkehrsbetriebe, wie in Hannover, nutzen den Stillstand, um ganz in Ruhe einmal Gleiskörper und Tunnelwände zu reinigen. Die mediale Aufregung über den Supermegamonster-Generalstreik, der Lieferketten unterbrechen könne und einem „neuen Lockdown“ gleichkäme, sie verpufft an diesem Morgen eines äußerst geordneten Ausstands.
Nach dem Ende des gewerkschaftlichen Konzerts herrscht in und um Deutschlands verkehrsreichsten Bahnhof wieder irritierende Ruhe. Morgens kurz nach 8 Uhr sind hier an normalen Montagen Zehntausende Menschen unterwegs, der Höhepunkt der morgendlichen Rushhour. An diesem Streikmontag wirkt der Boden im menschenleeren Bahnhof blitzblank, wie frisch geputzt. An einem Imbisstand, wo normalerweise lange Schlangen stehen, sind EVG-Gewerkschafter die einzigen Kunden, die Käsebrötchen und Laugengebäck ordern. Sogar für ein kurzes Schwätzchen mit der Verkäuferin ist Zeit. Die großen Doppelrolltreppen, die Reisende und Pendler aus den Tiefen des Bahnhofs ans Tageslicht befördern, rumpeln leerlaufend vor sich hin.
Auch am Berliner Hauptbahnhof herrscht am Morgen gähnende Leere, die beiden größten Menschengruppen stellen Obdachlose und Reporter. Eine 28-jährige Australierin gehört zu den wenigen Reisenden, die vergeblich darauf warten, hier wegzukommen. Die Touristin aus Brisbane steht verloren im Untergeschoss an Gleis drei, an dem die Anzeige noch einen Zug anzeigt, der nicht fahren wird. Eigentlich wollte sie mit der Bahn nach Zürich fahren. „Ich habe von dem Streik gehört, habe aber nicht gewusst, was für ein Ausmaß er haben wird“, sagt die Frau, die ihren Namen nicht nennen und nicht fotografiert werden will. „Ich wusste nicht, dass auch mein Zug gestrichen wurde.“ Bei Streiks in Australien fielen manche Züge aus, nicht aber der gesamte Bahnverkehr.
Ist es noch ein Warnstreik, wenn zwei große Gewerkschaften gemeinsam dafür sorgen, dass bundesweit kein Zug mehr fährt, fast alle innerdeutschen Flüge gestrichen werden und in sechs Bundesländern auch U-Bahnen, Trams und Busse stillstehen? Ist es legitim, das an einem Tag zu tun, wenn die dritte Verhandlungsrunde für einen Tarifvertrag im öffentlichen Dienst beginnt und sich beide Seiten anzunähern versuchen?
Das Streikrecht wird inflationär ausgereizt.
Karin Welge,
Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA)
„Mit einem Warnstreik hat das nichts mehr zu tun“, heißt es vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft, „die großflächigen Streiks bedeuten eine völlig unnötige Eskalation des Tarifkonflikts zum jetzigen Zeitpunkt.“ Und Karin Welge, Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), sagte vor Streikbeginn am Sonntag: „Das Streikrecht wird inflationär ausgereizt.“
„Inflationär“ – damit lieferte sie ein Stichwort, das alle Rednerinnen und Redner auf den Streikkundgebungen am Montag dankbar aufgriffen. Schließlich sind es die extremen Preissteigerungen bei Energie und Grundnahrungsmitteln, die auch die Streikbereitschaft der traditionell eher friedfertigen deutschen Großgewerkschaften inflationär ansteigen lassen.
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Karin Welge, Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA).
© Quelle: Carsten Koall/dpa
Verhandlungen in Potsdam
Am Montagmorgen klingt Karin Welge schon ein bisschen versöhnlicher in ihrer Einschätzung zum Streik. So eine „Machtdemonstration der Gewerkschaften“ sei „legitim“, sagt die Verhandlungsführerin der Kommunen, müsse aber „ein einmaliges Ereignis bleiben“. Sie sagt das im Foyer des Kongresshotels am Templiner See in Potsdam, das an diesem Tag zum Epizentrum des Megastreiks geworden ist. Während an den Verkehrsknotenpunkten dieser Republik, in den Hauptbahnhöfen und Airports, ungewohnte Stille herrscht, fahren in Sichtweite der sonnenglitzernden Havel Demonstranten und Demonstrantinnen aus der ganzen Republik ihre Lärmkulisse auf und bedienen ausgiebig ihre Tröten und Rasseln. Lauter als alle anderen ist eine Abordnung dreier Forstarbeiter aus Sachsen und Thüringen, die genussvoll ihre Motorsägen aufröhren lassen.
Verdi-Chef Frank Werneke braucht vor Aufregung zwei Anläufe, bis er das Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins richtig zitieren kann: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Kein Megastreiktag ohne den Klassiker. „Damals dachten die Kollegen vielleicht an Dampflokomotiven“, sinniert Werneke. „Heute fliegt kein Flugzeug. Heute fährt kein Zug. Heute ist in vielen Bundesländern kein Nahverkehr und viele Schiffe liegen vor Anker. Und das ist gut so, denn heute ist Streiktag.“ Applaus, Rasseln, Tröten, Motorsägen.
Überall fehlt es am Personal, weil im öffentlichen Dienst nicht gut genug bezahlt wird, und deshalb ist dieser Arbeitskampf auch ein Arbeitskampf gegen die ignoranten Arbeitgeber.
Frank Werneke,
Verdi-Chef
„Wir arbeiten am Limit, weil viele Stellen nicht besetzt werden können, weil die Bezahlung zu schlecht ist“, ruft Werneke. „Überall fehlt es am Personal, weil im öffentlichen Dienst nicht gut genug bezahlt wird, und deshalb ist dieser Arbeitskampf auch ein Arbeitskampf gegen die ignoranten Arbeitgeber.“
Käme am Potsdamer Havelufer eine Beobachterin aus Frankreich vorbei, dem Land der brennenden Öltonnen und Bengalos, würde sie vermutlich äußerst irritiert sein über solch einen absurden deutschen Streiktag im öffentlichen Dienst mit seiner äußerst friedfertigen Folklore. Alle Hauptkontrahenten sind Genossinnen und Genossen und würden sich auf SPD-Parteitagen freundlich mit Vornamen begrüßen: Karin Welge ist im Hauptberuf SPD-Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen, Eisenbahngewerkschaftschef Martin Burkert saß 15 Jahre für die Sozialdemokraten im Bundestag, Werneke ist seit 40 Jahren SPD-Mitglied. Für den Bund verhandelt SPD-Innenministerin Nancy Faeser.
Vor dritter Tarifrunde: Arbeitgeber und Gewerkschaften weit voneinander entfernt
Begleitet von massiven Warnstreiks geht es bei den Gesprächen in Potsdam um die Gehälter für die etwa 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen.
© Quelle: Reuters
Sie betritt das Tagungshotel durch den Seiteneingang und tritt nur kurz vor die Kameras. Zwei Aussagen, einmal Kritik, einmal Zuversicht. „Ich habe sehr viel Verständnis, dass sich die Menschen über die Einschränkungen im Bahnverkehr ärgern. Wir verhandeln hier heute keinen Bahnabschluss und auch nicht mit der EVG.“ Für die Verhandlungen zeigt sie sich optimistisch: „Viele, auch im öffentlichen Dienst, leiden in diesen Tagen unter der Inflation. Es ist unsere Aufgabe, gemeinsam einen guten Abschluss zu finden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das gelingt.“
Draußen bleibt es noch ein paar Minuten laut, aber natürlich äußerst friedlich. Die Polizistinnen und Polizisten am Rand der Kundgebung halten einen Plausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der Gewerkschaft der Polizei, die überdimensionierte grüne Ballons mit sich führen. Niemand käme trotz der frischen Temperaturen auch nur im Entferntesten auf die Idee, eine Öltonne anzuzünden.
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Und dennoch ist Wernekes Angriff auf die „ignoranten Arbeitgeber“ eben nicht nur Folklore, kommt die Streikbereitschaft nicht von ungefähr. Egal, welche Berufsgruppe hier spricht, die Sorgen sind überall dieselben. Rettungswagenfahrer, Waldarbeiter, Erzieherinnen, Polizisten, Bus- und Bahnfahrer beklagen: Die Teuerung, der Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel, die fehlende Wertschätzung, die zum Alltag gewordenen Pöbeleien. Nachgeben will hier keiner, aber „das Streikrecht inflationär ausreizen“ lieber auch nicht.
Den Osterreiseverkehr nehme man nicht ins Visier, sagte EVG-Tarifvorstand Kristian Loroch. Man wolle nicht die Reisenden bestreiken, sondern die Arbeitgeber.
So flexibel, wie sich die Reisenden und Pendler an diesem „Megastreiktag“ gezeigt haben, müssten die Gewerkschaften für eine mögliche nächste Runde mit einer Reaktion rechnen, die gefährlicher wäre als Empörung: pure Gleichgültigkeit.