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Putins Ukraine-Krieg

Historiker Andreas Rödder: „Das ist eine tiefere Zäsur als der 11. September 2001“

Auf diesem vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichten Videostandbild feuern russische Panzer Typ T-72B3 während militärischer Übungen auf einem Übungsgelände in der Nähe von Moskau.

Auf diesem vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichten Videostandbild feuern russische Panzer Typ T-72B3 während militärischer Übungen auf einem Übungsgelände in der Nähe von Moskau.

Berlin. Herr Rödder, nach dem 11. September sagten viele, die Welt sei nun eine andere. Ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine nun eine ähnlich tiefe Zäsur?

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Das ist eine tiefere Zäsur als der 11. September 2001. Der russische Präsident Wladimir Putin ist bereit, militärische Gewalt gegen souveräne Staaten als reguläres Mittel seiner Politik einzusetzen – das zeigt sich nach der Anwendung militärischer Gewalt gegen Georgien im Jahr 2008 und der Annexion der Krim im Jahr 2014 nun endgültig. Damit zerstört er eine regelbasierte internationale Ordnung, die auf der Herrschaft des Rechts statt auf dem Recht des Stärkeren beruht.

Was bedeutet das für Europa und besonders für Deutschland?

Die Sondersitzung des Bundestags am Sonntag hat gezeigt, dass in Deutschland verstanden wird, dass die außenpolitische Orientierung des Landes sich grundsätzlich verändern muss. Deutschland und Europa müssen sich dauerhaft von ihren Illusionen verabschieden. Was hat es gebracht, das Mantra „Gewalt ist keine Lösung“ vor sich herzutragen, wenn ein Akteur wie Putin Gewalt sehr wohl als Lösung zur Erfüllung seiner Großmachtfantasien sieht?

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Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenburg-Universität Mainz. Aktuell lehrt er als Gastprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Er ist Autor des Bestsellers „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Der konservative Historiker leitet die Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen der CDU“ für das neue Grundsatzprogramm der Partei.

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenburg-Universität Mainz. Aktuell lehrt er als Gastprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Er ist Autor des Bestsellers „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Der konservative Historiker leitet die Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen der CDU“ für das neue Grundsatzprogramm der Partei.

Amerikaner und Briten haben im Zweiten Weltkrieg riesige Opfer gebracht. Heute sagen alle: Gott sei Dank haben sie uns befreit. Da war Gewalt sehr wohl eine Lösung. Wir reden im Moment davon, dass wir das Nato-Territorium militärisch verteidigen würden. Aber mir ist noch immer zu wenig die Rede davon, was eigentlich aus der Ukraine wird.

Sie wollen, dass Europa und die USA Putin notfalls militärisch wieder aus der Ukraine vertreiben?

Der Westen muss das Ziel verfolgen, die staatliche Existenz und Unabhängigkeit der Ukraine zu wahren. Wirtschaftssanktionen wie der Ausschluss russischer Banken aus Swift sind unabdingbar und richtig – auch wenn sie teuer auch für uns selbst sind. Dasselbe gilt für Waffenlieferungen in die Ukraine. Die Reaktion kommt spät, aber sie ist richtig. Denn wenn wir die Ukraine opfern, opfert Europa auch die eigene Identität. Es ist das Lebensrecht der einzelnen Staaten, an dem sich misst, ob wir das, was wir immer sagen, auch ernst meinen.

Steinharte Verhältnisse verflüssigen sich in kürzester Zeit und nehmen eine neue Gestalt an, die sich dann wieder verfestigt.

Andreas Rödder,

Historiker

Kanzler Olaf Scholz hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr angekündigt und versprochen, künftig mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren. Mehr außenpolitische Zeitenwende geht kaum noch, oder?

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Wenn der 24. Februar eine Zäsur in der europäischen Geschichte war, dann war der 27. Februar eine Zäsur in der jüngeren deutschen Geschichte. Es zeigt, wie sehr Krisen die Dinge verändern können: Steinharte Verhältnisse verflüssigen sich in kürzester Zeit und nehmen eine neue Gestalt an, die sich dann wieder verfestigt. Ich hoffe, Deutschland hat diese harte Lektion in Weltpolitik nachhaltig verstanden. Dazu muss der Regierungserklärung ein grundsätzlich anderes Handeln folgen. Deutschland muss für sich dauerhaft eine andere, aktivere Rolle annehmen.

Ist das der nächste große Paradigmenwechsel, seitdem die Bundeswehr wieder an Auslandseinsätzen teilnimmt?

Paradigmenwechsel erkennt man meist erst im Nachhinein. Aber diese Veränderung sieht in der Tat ganz danach aus.

Gibt es ein historisches Muster, aus dem wir für die Gegenwart im Ukraine-Krieg lernen können?

Das historische Muster, das uns eine Warnung sein muss, ist die Appeasement-Politik mit dem Münchner Abkommen vom September 1938 und der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich. Ein halbes Jahr später rollten Panzer der Wehrmacht in Prag ein, das verbliebene Tschechien wurde besetzt, und der Politikansatz der Zugeständnisse an den Aggressor war gescheitert. An diesem Punkt wie 1939 sind wir jetzt. Wir brauchen kein Appeasement, keine Beschwichtigungspolitik. Wir brauchen eine Politik des Containment, also der Eindämmung.

Putin setzt dazu an, den Weg zu einem großrussischen Reich zu gehen, ohne Rücksicht auf die Existenz souveräner Staaten.

Andreas Rödder

Historiker

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Sind diese Situationen tatsächlich vergleichbar?

Es geht nicht darum, Putin mit Hitler zu vergleichen – und auch nicht darum, Ängste vor einem weiteren Weltkrieg zu schüren. Aber wir dürfen uns auch keine Denk- und Sprechverbote auferlegen. Es gibt eine geostrategisch vergleichbare Situation. Hitler betrieb damals eine expansive Politik, und ihm wurde zu lange kein Einhalt geboten. Putin setzt dazu an, den Weg zu einem großrussischen Reich zu gehen, ohne Rücksicht auf die Existenz souveräner Staaten – und es ist die Frage, ob der Westen sich ihm noch rechtzeitig in den Weg stellt.

Welche Parallelen sehen Sie noch?

Putins Propagandalüge, es gebe im Osten der Ukraine einen Genozid an Russen, erinnert an die nationalsozialistische Propaganda, die einen polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz behauptet hat – als Vorwand für den Einmarsch in Polen. Putins Vorgehen stammt aus dem Lehrbuch des militaristischen Expansionismus, und zwar mit aller Skrupellosigkeit. Er wirft der Ukraine einen „Genozid“ vor – dabei war es Stalin, der von Moskau aus in den 30er-Jahren eine Hungersnot in der Ukraine auslöste, die wir heute als Genozid bezeichnen. Putin macht die Opfer zu Tätern. Das ist besonders perfide.

Unterm Strich handelt Putin irrational, da sein Vorgehen schon rein wirtschaftlich dauerhaft russische Interessen schädigt. Stehen Demokratien am Ende einfach hilflos vor dem Handeln irrationaler Autokraten?

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Die Annahme des irrationalen Handelns teile ich in dieser Eindeutigkeit nicht. Aus seiner eigenen Sicht handelt Putin rational. Er setzt nur Prioritäten, die uns absurd erscheinen. Putin verfolgt einen Imperialismus, der in seiner Konsequenz über das Zarenreich noch hinausgeht. Dem ordnet er alles unter. Während Putin den Russen Opfer verordnen kann, müssen Politiker in Demokratien um Opferbereitschaft werben. Sie müssen dabei klarmachen: Es geht jetzt um unsere Prinzipien.

Wie muss Europa sich weiterentwickeln, um für Krisen dieser Art besser gerüstet zu sein?

Europa fehlt Hard Power. Das liegt daran, dass wir uns eine Welt zurechtfantasiert haben, in der sich alles gewaltfrei und mit Diplomatie lösen ließe. Wir brauchen einen neuen Realismus. Wir müssen mehr Gemeinsamkeit in der Europäischen Union und in Europa herbeiführen, wir müssen aktiv den Schulterschluss im transatlantischen Bündnis bilden. Und wir müssen Entschiedenheit an den Tag legen. Abschreckung gibt es nicht zum Nulltarif. Freiheit hat ihren Preis – auch für uns.

Die Gesellschaft befindet sich durch Corona ohnehin schon seit zwei Jahren im Krisenmodus – es wird nicht leicht für Politiker sein, den Menschen jetzt immer neue Anstrengungen abzuverlangen.

Die Weltgeschichte ist kein Wunschkonzert. Realitätsflucht ist keine Lösung. Wir können den Herausforderungen der Weltpolitik nicht entfliehen. Deutschland und Europa müssen neue Prioritäten setzen. Das bedeutet auch, mehr Geld für Militär zu Verfügung zu stellen – und im Zweifelsfall abzuwägen, was wir dringender brauchen: funktionierende Streitkräfte oder hauptamtliche Diversitätsbeauftragte.

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Wie werden Historiker in 100 Jahren auf diesen Krieg schauen?

Das hängt davon ab, welche Entscheidungen jetzt getroffen werden. Wenn Europa und der Westen zu einer Politik der glaubwürdigen Abschreckung finden, können Historiker in 100 Jahren hoffentlich sagen: Es ist dem Westen aus einer Situation der Schwäche heraus gelungen, sich selbst zu behaupten. Wenn das nicht der Fall ist, wird die Nachwelt auf das Jahr 2022 womöglich so zurückschauen, wie wir heute auf 1938/39 blicken. Wir würden vom großen Versagen des Westens und dem Ende einer regelbasierten Weltordnung sprechen. Das ist es, was auf dem Spiel steht. Und was wir jetzt verhindern müssen.

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