Kann der Kachowka-Staudamm wiederaufgebaut werden?
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Wasser fließt über den zerstörten Staudamm in Cherson.
© Quelle: Uncredited/AP/dpa
Dirk Carstensen ist Leiter des Institutes für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm (IWWN) und Präsident des Deutschen Talsperrenkomitees e.V. Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland erklärt er, welche Probleme und Kosten auf die Ukraine beim Wiederaufbau des Kachowka-Staudamms zukommen könnten.
Herr Carstensen, wie lange könnte es dauern, den Staudamm in der Ukraine wieder aufzubauen?
Das ist eine gute Frage! Wir reden hier über 18 Milliarden Kubikmeter Wasser, die in dem Reservoire des Kachowka-Dammes waren. Zum einen muss man das Bauwerk betrachten und zum anderen wäre da der eben genannte Speicherinhalt. Vor dem Bau liegen die Situationsanalyse, verschiedenste Untersuchungen, Machbarkeitsstudie(n), Planungen etc. Will man das gleiche Bauwerk noch einmal errichten oder baut man eine neue und modernere Anlage? Wann kann man bauen? Hierfür müssen entsprechende geringe Abflüsse im Dnepr vorhanden sein, entsprechende Baugruben errichtet, eine präzise Bauplanung eingehalten werden und so weiter. Das dauert Jahre! Vielleicht fünf?
Wie lange es dauern kann, bis das Reservoire wieder aufgefüllt ist, kann ich im Moment gar nicht sagen – das ist zumindest nicht in vier Wochen oder zwei Monaten getan. Wie schnell das gehen kann, hängt beispielsweise von der Abgabe aus dem fünf stromauf liegenden Dnepr-Stausee oder von den Niederschlägen im Einzugsgebiet und den damit im Zusammenhang stehenden Zuflüssen ab. Einige Hochwasser könnten nach dem Wiederaufbau des Staubauwerkes ebenfalls hilfreich sein, um den Wasserspeicher schneller zu füllen.
Wie baut man einen Staudamm überhaupt wieder auf?
Staudämme sind Talsperren und riegeln über den Querschnitt des gestauten Wasserlaufes hinaus den Talquerschnitt ab. Sie bestehen in der Regel aus Absperrbauwerk, Betriebseinrichtungen und Speicherbecken (Hauptsperre) sowie gegebenenfalls zusätzlichen Vorsperren. Zu den Talsperren gehören auch alle für ihre Funktionsfähigkeit notwendigen Nebenanlagen, wie Umleitungsstollen, Beileitungen, Geschiebesperren, entferntere Vorbecken und Messstellen sowie Betriebsgebäude. Sie merken, es handelt sich um spezielle und komplexe Anlagen.
Beim Karchowka Staudamm ist nach meiner Kenntnis der aus Beton bestehende Mittelteil, bestehend aus der Wasserkraftanlage (357 MW) und der Hochwasserentlastungsanlage, des 30 Meter hohen und 3,2 Kilometer langen Staudamms gesprengt worden. Die Zerstörungen infolge der hydraulischen Wirkung des ausfließenden Wassers im Nah- und Fernfeld dieser Bresche nehmen mit Sicherheit riesige Dimensionen an. Allein die Vertiefungen/Auswaschungen müssen zehn bis 15 oder mehr Meter betragen.
Um diesen Dammteil wiederaufzubauen, muss das gesamte Gelände wieder aufgefüllt werden und man muss eine Technologie entwickeln, in welcher Größe und in welchem Bereich Baugruben in Abhängigkeit vom fließenden Wasser errichtet werden können. Eine bauzeitliche Umleitung des Dnepr wäre eine weitere Variante. Dafür braucht man einiges an Technik, weil das Wasser mit einem großen Abfluss und demzufolge einer nicht zu unterschätzenden Strömungsgeschwindigkeiten weiter in Richtung Schwarzes Meer fließt. Man muss letztendlich woanders eine Entlastung bringen, um an der Stelle bauen zu können.
Aus meiner Sicht ist eine Reparatur unmöglich, hier muss der zerstörte Teil komplett neu gebaut werden. Die restlichen Teile des mit ca. 3,2 km Länge sehr langen Dammbauwerkes müssen dann sicher parallel saniert werden. Das geht bei der Verankerung und Abdichtung im Untergrund los, setzt sich über unzählige Kubikmeter Beton für das reine Staubauwerk fort und endet mit Teilen des Stahlwasserbaus für bewegliche Wehre zur Regelung des Abflusses sowie des Wasserspiegels im Stauraum. Staudämme und Staumauern sind das „Hohe C“ der Ingenieurbaukunst. Zu einer Stauanlage gehört mehr als das reine Staubauwerk, es ist eine riesige Anlage.
Was kann ein moderner Staudamm im Vergleich zu anderen?
Ein moderner und mit 70 Jahren mehr Erfahrung, hinsichtlich der Hydrologie und des Sedimenttransportes, an diesem Standort errichteter Staudamm liefert mit einer riesigen Wasserkraftanlage kostengünstigen Strom mit geringen CO₂-Emissionen. Die Technologien, Konstruktion und Bemessung zur Errichtung derartiger Bauwerke hat sich weltweit enorm weiterentwickelt. Weltweit wurden seit den 1950er-Jahren ungefähr 53.000 große Talsperren errichtet, da ist das Know-how vorangekommen. Der Stahlbau hat sich wesentlich verbessert. Ein neues Bauwerk wäre von der hydraulischen und energetischen Optimierung besser, man weiß mehr über Systeme, man kann schlanker bauen, man hat bessere Möglichkeiten in allen Fachsparten und vor allem die dazu passende Technik, um Staudämme dieser Größenordnung zu errichten.
Es gibt drei Faktoren, die bei der Bemessung von Talsperren beachtet und nachgewiesen werden müssen: Die Tragsicherheit, also die Statik, die Gebrauchstauglichkeit, also die Anwendbarkeit des Bauwerkes, und die Dauerhaftigkeit bzw. Langlebigkeit. Talsperren können bei sorgfältiger Wartung und Sanierung eine voraussichtliche Nutzungsdauer von über 100 Jahren haben. Das Bauwerk hätte, wenn wir es heute neu errichten, auch verbesserte Möglichkeiten der Bauwerksüberwachung und -unterhaltung, modernere Mess- und Kontrollsysteme und Überwachungstechnik. Denn bei einer Stauanlage reden wir immer über kritische Infrastruktur.
Die Ukraine sagt, der Bau dauert mindestens fünf Jahre und kostet mindestens 1 Milliarde Euro – ist das realistisch?
Das ist schwierig zu sagen. Die Details sieht man nicht von außen, wie beispielsweise die Frage nach der Befestigung des Bauwerkes am Untergrund, damit das Bauwerk wieder standsicher gebaut werden kann. Dann ist da die Frage, wie man es wiederaufbaut, ob genau so oder mit neuer Technik, denn die Entwicklung im Wasserbau ist auch weiter gegangen und das jüngste Bauwerk war es ja auch nicht mehr.
Da müsste man eine Planung sehen, die Ausgangslage sowie spezielle Untersuchungen zum Baugrund kennen, wie viel Material wird benötigt, die Entwicklungskosten und die Bauzeit betrachten und so weiter. Und selbst dann wissen wir nicht, zu welchen Konditionen in der Zukunft derartige Projekte gebaut werden können. Überall ist Bauen teurer geworden.
Ich sehe hier aber nicht nur diese direkten Kosten. Was passiert mit dem Flussbett beziehungsweise der Flusslandschaft, den wasserbaulichen Anlagen in den urbanen Gebieten, der Infrastruktur insgesamt? Eine Milliarde zu schätzen, wie die Ukraine, das traue ich mir jetzt und von hier aus nicht zu, das wäre auch nicht seriös.
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Das Krisen-Radar
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Braucht man für die Bauarbeiten Spezialunternehmen oder kann das jeder?
So etwas baut man nicht nur mit einem Unternehmen, solche Bauwerke sind multifunktional und interdisziplinäre Bauwerke. In der Regel braucht man Experten aus mehreren Fachgebieten, angefangen mit Wasserbauingenieuren, die das Projekt entwickeln und bemessen, die Statik erstellen und den Bauablauf planen, Stahlbauer, die sämtliche Ausrüstung und Regelorgane entwickeln, Geologen und Geotechniker, die den Untergrund analysieren und verbesser, Betontechniker, Logistiker et cetera.
Gewöhnlich finden sich dazu Ingenieurbüros und Baufirmen in Arbeitsgemeinschaften zusammen und erfüllen diese zeitlich befristete und inhaltlich abgegrenzte Aufgabe gemeinsam.
Ein Fluss, der eine solche Region durchströmt, der durch die Sprengung in weiten Teilen des Landes Chaos angerichtet hat und dessen Tal wieder eingestaut werden soll, fordert aber nicht nur Bauleute, sondern auch Stadtplaner, den Natur- und den Denkmalschutz. Diese Aufgaben sind in Friedenszeiten kaum in naher Zukunft zu schultern. Schauen Sie ins Ahrtal, dann wissen sie, wie lange solche Arbeiten bei uns dauern. Wie will die Ukraine dies während eines Krieges schultern? Ich sehe da kein Licht am Ende des Tunnels.