Belarussischer Schriftsteller Filipenko

Neuer Roman: Wie der „Kremulator“ die Leichen des stalinistischen Terrors verbrannte

Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko las am 9. März auf dem internationalen Literaturfestival  Lit.Cologne aus seinem neuen Roman „Kremulator“. Das Buch ist bei Diogenes erschienen, hat 256 Seiten und kostet 25 Euro.

Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko las am 9. März auf dem internationalen Literaturfestival Lit.Cologne aus seinem neuen Roman „Kremulator“. Das Buch ist bei Diogenes erschienen, hat 256 Seiten und kostet 25 Euro.

Berlin. Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko (38) hat sich in seinem neuesten Roman „Kremulator“ (Diogenes Verlag) einem Stoff zugewandt, dessen Handlung tief in die Hochzeit des stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre eintaucht, aber angesichts der Geschehnisse immer wieder auch an die Gegenwart erinnert.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der „Kremulator“, das ist nicht etwa der Herrscher im Kreml, sondern das ist Pjotr Nesterenko, ein Mann in seinen Vierzigern, der das große Krematorium von Moskau leitet, wo die Opfer des Terrors verbrannt werden, nachdem sie zuvor meist mittels Genickschuss hingerichtet worden sind.

Filipenko zeichnet das wechselvolle Leben Nesterenkos anhand von Verhörprotokollen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD nach, die er von der inzwischen verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial erhalten hat. Demnach geriet der Mann, der jahrelang Tausende vermeintliche und tatsächliche Regimegegner kremiert hatte, im September 1941 selbst ins Visier des Geheimdienstes und wird fortan von dem Leutnant Pawel Perepeliza vernommen. Ein „sauberes, rotbackiges Pioniergesicht“, das den Häftling auch mit Schlägen traktiert.

Perepeliza lässt sich vom „Gott der Asche“, wie sich Nesterenko selbst nennt, in endlosen Verhören alles Mögliche berichten. Etwa, dass seit 1932 die Anzahl der Kremierungen mit 9000 pro Jahr relativ konstant blieb. Nur 1938 waren es weniger. „Da hat der Ofen nicht mehr mitgemacht.“ Und es fallen die Namen der Großen, die er eingeäschert hat, etwa den Dichter Majakowski oder die Politbüromitglieder Kamenew und Sinowjew, die Stalin zunächst halfen, seinen stärksten Gegner, Leo Trotzki, loszuwerden und die dann selbst an der Reihe waren.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Filipenko hangelt sich an den Verhörprotokollen entlang und mischt mit schwarzem Humor geschickt Fiktion und Dokumentation, was schon in der Titelei des Buches mit dem Satz beginnt: „Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene“. „Man kann heute mit Dokumenten arbeiten, zu denen Autoren wie Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow noch keinen Zugriff hatten“, sagt Filipenko im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das Material sei eine wertvolle Basis.

Auch wenn seit der Herrschaft von Wladimir Putin viele Archive wieder geschlossen wurden, so sei doch in der Ära von Boris Jelzin vieles digitalisiert worden und auf diese Weise heute im Internet zugänglich, berichtet Filipenko. Zudem gebe es frei zugängliche Archive in den anderen Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten, wie etwa Litauen, Lettland oder Georgien. „Allein in der Ukraine sind vor Beginn des russischen Angriffs Archive mit acht Millionen Fällen zugänglich gewesen“, erläutert Filipenko.

Wissen über die Sowjetunion vermitteln

Der Romanheld Nesterenko, der seinen Vernehmer „Bürger Ermittler“ nennt und ihm auch ansonsten sehr schlagfertig und gewitzt begegnet, ist auf alles gefasst, selbst auf das Erschießen, das mit jeder Seite des Buches ein Stück näher rückt. Und er lässt den Leser wissen: „Den Tod probe ich seit Jahrzehnten – er passt perfekt zu mir. Ich tanze mit ihm, schlafe an seiner Seite ein und schütte ihm mein Herz aus. Der Tod ist mir so vertraut und nahe, wir müssen uns voreinander nicht verstellen ...“

„Als ich die Verhörprotokolle las, wurde mir klar, dass ich durch dieses bewegende Schicksal viel erzählen kann“, sagt Filipenko. „Ich dachte mir, anhand dieser Person könnte ich vielen Menschen auf der Welt etwas über die UdSSR vermitteln.“ Bei der Rekonstruktion von Nesterenkos Lebensweg will der Autor den Leser animieren, auch selbst nachzuforschen. „Wenn Sie sich bei Google auf die Reise begeben, werden Sie bemerken, dass sehr vieles stimmt und der Wahrheit entspricht“, so Filipenko.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Nesterenko, Jahrgang 1886, entstammt einer verarmten Adelsfamilie und begibt sich nach der Oktoberrevolution 1917 und dem sich anschließenden Bürgerkrieg mit Zehntausenden anderen Anhängern des gestürzten Zaren auf die Flucht vor den Bolschewiken. Von der Krim geht es in die Türkei und über Bulgarien, Serbien und Deutschland schließlich bis nach Frankreich, wo er als Taxifahrer arbeitet. Nach schwierigen Jahren im Exil lässt er sich in Paris schließlich vom NKWD anwerben, um wieder in die Heimat zurückkehren und dort leben zu können.

Der Roman spielt zwar vor rund 100 Jahren, aber in Handlungen, Dialogen und Beschreibungen tun sich viele Parallelen zur heutigen Zeit auf. „Ich möchte zeigen, dass die Leute, die heute die Staatsmacht in Russland verkörpern, die Nachkommen der Sowjetmacht sind“, sagt Filipenko. „Die Anwerbungen für den Geheimdienst erfolgen heute noch so wie vor 100 Jahren, und die Gerichte arbeiten heute auch wieder so wie damals.“

28.02.2023, Russland, Moskau: Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik via AP veröffentlichte Foto zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, der eine Rede während einer Sitzung des Vorstands des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) hält. Putin hat den letzten großen atomaren Abrüstungsvertrag mit den USA außer Kraft gesetzt. Dazu habe Putin ein entsprechendes Gesetz unterzeichnet, teilte der Kreml am Dienstag in Moskau mit. Foto: Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wie Putin Revanche für eine empfundene Kränkung nimmt

Schon 2005 bezeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Während viele der ehemals 15 Sowjetrepubliken das Ende auch als Chance begriffen, trauern alte russische Eliten dem kollabierten Gebilde bis heute nach. Für Putin stellt er auch persönlich eine Kränkung dar. Seit Jahren arbeitet der Kremlchef zielstrebig an einem Comeback des untergegangenen Imperiums.

Filipenko ist überzeugt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in das alte System zurückwill: „Er verherrlicht ja die Sowjetunion“, sagt der Autor. Deswegen sei es wichtig zu zeigen, wie das damals funktioniert hat. „Heute gehen zwar nicht mehr 27 Millionen Menschen durch die Straflager, wie es damals geschehen ist“, erläutert Filipenko, „aber trotzdem möchte ich etwas tun, was in Russland verboten ist, nämlich die Ähnlichkeit zwischen dem faschistischen Deutschland und dem sowjetischen Regime aufzeigen.“

Den jungen Menschen in der Sowjetunion sei immer vermittelt worden, dass das ein Kampf zwischen Gut und Böse war, sagt Filipenko und fügt hinzu: „Jetzt sieht man, in was sich dieses vermeintlich Gute verwandeln kann.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige


Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken