Krise? Welche Krise? Wie Menschen widerstandsfähig bleiben
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Eine Szene aus diesem Sommer im von Russen heftig zerschossenen Kiewer Vorort Irpin: Ein Mann mäht den Rasen – und lässt den Fotografen wissen, es sehe dann schon mal alles „etwas netter“ aus.
© Quelle: Marek M. Berezowski
Berlin im Spätsommer 1945. Ein amerikanischer Militärjeep rollt durch die zerstörte Stadt, vorbei an endlosen Reihen zerbombter Häuser. Die US-Soldaten sprechen über die bedrückende Szenerie um sie herum.
„Was meinen Sie, kommen die Deutschen jemals wieder auf die Beine?“, fragt der junge Adjutant Vernon Walters seinen Vorgesetzten John J. McCloy. Der zeigt sich überraschend optimistisch. Gerade habe er eine Familie im Keller eines zerstörten Hauses beim Essen sitzen sehen. Auf dem Brett, das als Tisch herhielt, sei nicht nur das Essen zu sehen gewesen: „Da stand eine Vase mit frischen Blumen.“
Für McCloy war klar: Leute, die unter so deprimierenden Umständen Blumen auf den Tisch stellen, lassen sich nicht so leicht unterkriegen.
Deutsche „flower power“ in den Trümmern
Walters hat diese Anekdote in den folgenden Jahrzehnten oft erzählt, zuletzt in seiner Eigenschaft als US-Botschafter in Bonn. Dort half er Jahrzehnte später, im Mauerfalljahr 1989, im Auftrag von George Bush senior, einen glücklichen Moment der Deutschen vorzubereiten – die Vereinigung des geteilten Landes in Freiheit.
Die Blumen im Berliner Keller sind Teil der Antwort auf eine leider wieder aktuelle Frage: Wie kommen Menschen, wie kommt auch eine Gesellschaft als Ganzes zurecht mit schweren Schlägen durch Krisen, Kriege und Katastrophen?
Fest steht jedenfalls, wie es nicht geht. Gegenseitige Schuldzuweisungen führen nicht weiter, schon gar nicht die aus Talkshows und sozialen Medien bekannte Mischung aus Passivität in eigener Sache und großem Engagement bei Kritik an „denen da oben“.
Als Deutschland sich während der Corona-Krise auf diese Art in eine europaweit auffallende Düsternis hineingeschraubt hatte, warnten Psychologen, nun müsse irgendwann aber mal Schuss sein mit den „abwärtsgerichteten Emotionsspiralen“: Die bloße Betonung des unabweisbar eingetretenen Negativen ziehe Land und Leute nur runter.
Schon damals fiel dem Berliner Philosophen Wilhelm Schmid ein Problem auf, über das nie geredet wurde. Das Land der Dichter und Denker vergesse vor lauter Aufregung das heute wie zu allen Zeiten nötige Nachdenken über die eigene intellektuelle und emotionale Art des Umgangs mit der Krise: „Der größte Mangel, den Deutschland gerade erlebt, ist der Mangel an Philosophie.“
Zusammenhalt mildert jeden Schock ab
Nachhilfelektionen kamen aus anderen Erdteilen. Die Australier etwa drückten schon vor Verbreitung von Impfstoffen in einer stoischen Gemeinschaftsanstrengung die Infektionszahlen auf Werte nahe null. In Taiwan und Südkorea half massives Testen beim Etablieren einer zwar wackligen, aber alltagstauglichen neuen Normalität. Egal, welchen Weg eine Gesellschaft ging: Das Geheimnis des Erfolgs lag und liegt im sozialen Zusammenhalt.
Zusammenhalt mildert jeden nur denkbaren Schock ab. Zusammenhalt erleichtert anschließend auch den – anfangs oft nur zaghaften – Versuch einer Rückkehr zur Normalität.
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Szene am Dnepr in Kiew im Sommer 2022.
© Quelle: Getty Images
Die Ukrainer führen so etwas gerade vor, jedenfalls dort, wo es möglich ist. In Kiew sind in diesem Sommer die Bars wieder geöffnet und die Theater. Der Jazzclub 32 im historischen Stadtzentrum etwa lädt ein zu anspruchsvollen Livekonzerten, 20 Prozent der Einnahmen gehen an die ukrainischen Soldaten. Auf den Tickets heißt es: „Wir danken unseren Verteidigern für die Möglichkeit, weiter zu leben und zu arbeiten.“
Russische Raketenangriffe? Kann niemand ausschließen. Aber vorher gibt es ja immer Alarm. Und immer häufiger werden die Geschosse auch abgefangen.
Eine Verdrängung der Realität?
Eine Mentalität macht sich breit, wie viele sie aus Tel Aviv kennen, wo die Diskotheken nicht geschlossen werden, nur weil gestern Abend mal wieder ein Typ mit Plastiksprengstoff unterm Hemd festgenommen wurde. Die Bedrohung durch einen mörderischen Feind wird nicht geleugnet, aber sie wird relativiert und eingebaut in den Alltag, als Teil eines größeren Puzzles. Sie soll nichts Dominierendes bekommen.
Das makabre Nebeneinander von Krieg und Frieden führt mitunter zu bizarren Szenen. Der polnische Fotograf Marek M. Berezowski hielt in diesem Sommer einige davon fest. Im ukrainische Borodianka etwa traf er drei Kinder beim Spielen. Links und rechts ragen Ruinen empor, aber ihr kleines blaues Karussell funktioniert tadellos: Man kann schon wieder drauf springen, sich drehen, loslassen, herunterspringen, kichern – alles super.
In Irpin mäht ein Mann vor einer ganzen Reihe zerschossener Wohnhäuser erst mal den Rasen – und lässt den Fotografen wissen, es sehe dann schon mal alles „etwas netter“ aus.
Sind diese Bilder bedrückend? Oder wirken sie am Ende im Gegenteil beflügelnd? Es liegt im Auge des Betrachters.
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Supertramp-Album „Crisis? What Crisis?“.
© Quelle: A&M Records
Im Jahr 1979 erschien das Supertramp-Album „Crisis? What Crisis?“. Auf dessen Cover sitzt in einer hässlichen Industriebrache vor zwei Dutzend rauchender Schlote ein Mann mit Badehose und Sonnenbrille in einem Klappsessel, Radio daneben, Drink auf dem Tisch, und lässt es sich gut gehen. Das Bild provozierte, es gab Rätsel auf. Verdrängt der Mann im Klappstuhl die Realität? Oder geht er nur auf alternative Art mit ihr um? Erhebt er sich gar über sie?
Hysterie macht alles schlimmer
Zumindest verweigert er sich einer Haltung, die jede Krise noch schlimmer macht, als sie ohnehin schon ist: Hysterie.
Brennt ein Gebäude, das weiß jeder Feuerwehrmann, steigern Chaos und Getrampel erst recht die Gefahr. Ähnlich ist es auf den ökonomischen und politischen Krisenfeldern der Moderne. Fallen die Aktien, wird der Absturz noch steiler durch jene, die mit Blick auf die Minuszahlen nun schnell alles verkaufen. Und in den jetzt angebrochenen Zeiten der Inflation wirkt sich kein Faktor so stark preistreibend aus wie die Angst vor noch höheren Preisen.
Im Extremfall treibt Hysterie die Menschen in eine Zusatzkrise, für die es keine reale Grundlage gibt. Zu Beginn der Pandemie etwa hat in Deutschland eine ebenso diffuse wie übertriebene Aufregung das Toilettenpapier knapp werden lassen – und zu nie da gewesenen aggressiven Szenen in deutschen Supermärkten geführt.
Aufwallungen dieser Art sind ein schlechtes Zeichen für eine Gesellschaft, sie signalisieren Haltlosigkeit, Verkniffenheit, vielleicht gar den Beginn einer Zersetzung – ganz im Gegensatz zu der Botschaft, die von den Blumen im Berliner Bombenkeller ausgeht.
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Philosophie für Krisenzeiten: Die Stoiker – hier eine Darstellung Senecas – erleben zurzeit ein Comeback als Vorbilder für die Moderne.
© Quelle: Fotos: shutterstock, iStock | Montage: RND
Gelassenheit zu bewahren, auch und gerade im Moment einer Krise: Das ist leichter gesagt als getan. Es bleibt aber die richtige Empfehlung, nicht erst seit gestern, sondern schon seit rund 2000 Jahren.
Dass Krisen vor allem im eigenen Kopf stattfinden, lehrten schon die Stoiker. Sie rieten bereits in der Antike dazu, im Fall großer Katastrophen auf alles Klagen und Jammern zu verzichten und sich darauf zu konzentrieren, was man selbst zum Besseren wenden könne.
„Übe dich, deine Fassung zu bewahren, nimm dich zusammen“, sagt Seneca. Das hört sich streng an, nach einem Verhalten gegen das Gefühl. Doch Besonnenheit kann Leben retten.
Unser Steinzeithirn macht uns zäh
In London kam es in Phasen des Terrors vor, dass nach einem großen Knall in der U-Bahn die Fahrgäste in rauchenden Schächten säuberlich in Reihe am Notausgang antraten, teils mit der Aktentasche unterm Arm. Ausländer wunderten sich über dieses Maß an britischer Zivilisiertheit, doch alles andere hätte tatsächlich nur Chaos und Gefahr gesteigert.
Rund um den Unglücksreaktor von Fukushima sah man schon bald nach der Katastrophe wieder die Bagger rollen, unter sich drehenden Kränen. Stolz sprachen die Japaner von „Ganbaru“, was so viel heiß wie: zäh bleiben, weitermachen, auch unter widrigen Umständen.
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„Wir alle sind, mehr als wir es selbst ahnen, Überlebenskünstler“, sagt Borwin Bandelow, Psychologe und Angstforscher aus Göttingen.
© Quelle: Stefan Rampfel
Viele hantieren angesichts solcher Szenen mit kulturellen und soziologischen Erklärungen. Ein völkerverbindender zentraler Faktor aber ist nach Ansicht des Göttinger Psychologen und Angstforschers Borwin Bandelow die jahrtausendealte Programmierung unserer Gehirne aufs Weiterleben.
„Wir alle sind, mehr als wir es selbst ahnen, Überlebenskünstler“, sagt Bandelow. In Notfällen schalte das menschliche Hirn in einen Survivalmodus, getrieben von Faktoren in den tiefsten Hirnregionen, dem „Steinzeithirn“. Zu den dort abgelegten Verhaltensmustern gehöre der Versuch, auch nach extremen Katastrophen so schnell es geht wieder Normalität herzustellen. Nur dies nämlich sichere das eigene Überleben und das der Sippe. Für das also, was oft als bewundernswerte Zähigkeit erscheint, gibt es eine schlichte – letztlich darwinistische – Erklärung.
Bandelow bringt es auf den Punkt: „Diejenigen, zu deren Verhaltensmuster es gehörte, das eigene Leben im Fall von Schwierigkeiten schnell aufzugeben, sind schon vor vielen Jahrtausenden ausgestorben.“
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