„Kriegsverbrechen“ und eine „abscheuliche Tat“: So reagiert die westliche Welt auf die Staudammsprengung
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Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt. Im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson ist nach Angaben der Kriegsparteien ein wichtiger Staudamm nahe der Front schwer beschädigt worden.
© Quelle: Uncredited/Ukrainian Presidentia
Berlin. Die Ukraine hat die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden des Landes als „größte menschengemachte Katastrophe seit Jahrzehnten“ eingestuft. Westliche Politikerinnen und Politiker reagierten mit heftiger Kritik auf die Sprengung – viele sprechen bereits von einem „Kriegsverbrechen“.
Hunderttausende bekämen in den kommenden Jahren die negativen Folgen zu spüren, warnte der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak. Er bezeichnete Russland als „Terrorstaat“, der seinen Angriffskrieg auf eine neue Stufe stelle. „Heute ist Russland eine globale Bedrohung.“ Das Land müsse seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren. Russland gehört dort zu den fünf Vetomächten.
Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine zerstört
Die russischen Streitkräfte haben offenbar den Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt.
© Quelle: Reuters
Jermak äußerte die Vermutung, dass Russland mit der Zerstörung des Staudamms die geplante ukrainische Großoffensive ausbremsen wolle. Auf Twitter schrieb er, durch die Vernichtung des Staudamms nehme auch das Bewässerungssystem für die Landwirtschaft im Süden der Ukraine Schaden. Die Ukraine gehört weltweit zu den großen Getreideexporteuren. Das Präsidentenbüro veröffentlichte Videoaufnahmen der überfluteten Stadt Nowa Kachowka, die von russischen Truppen besetzt ist.
„Abscheuliches Kriegsverbrechen“
Der ukrainische Außenminister Dymtro Kuleba verurteilte den Anschlag auf den Staudamm und das Wasserkraftwerk im russisch besetzten Teil des Gebiets Cherson als „abscheuliches Kriegsverbrechen“. „Russland hat den Kachowka-Staudamm zerstört und damit die wahrscheinlich größte technische Katastrophe in Europa seit Jahrzehnten verursacht“, schrieb er im Kurznachrichtendienst Twitter. Tausende Zivilistinnen und Zivilisten seien in Gefahr. „Die Ukraine steht vor einer großen humanitären und ökologischen Krise.“ Vorwürfe aus Moskau, Kiew sei verantwortlich für die Zerstörung, wies der Minister als Propaganda zurück.
Kuleba nennt Folgen für die Natur: „Wir sind Zeugen eines Umweltmordes“
In einer Videoansprache, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland vorliegt, sagte Kuleba, Russland habe „die vom Menschen verursachte Flut“ angesichts der Entwicklungen auf dem Schlachtfeld zu einer Waffe gemacht. Dies sei ein „vorsätzlicher und von langer Hand geplanter terroristischer Akt“. „Besonders besorgniserregend ist der Schaden für die Umwelt“, sagte der Außenminister weiter. „Ganze Ökosysteme werden durch die Überschwemmungen langfristig und unwiderruflich geschädigt.“ Zudem seien Tiere im Zoo von Nowa Kachowka bereits im steigenden Wasser verendet. „Und dies ist erst der Anfang der Schäden für die Fauna im Süden der Ukraine, entlang des Dnipro und im Schwarzen Meer. Wir sind Zeugen eines Umweltmordes auf regionaler, nicht nur ukrainischer Ebene“, erklärte Kuleba.
Die ukrainischen Streitkräfte wollen sich unterdessen nach eigenen Angaben nicht von den Wassermassen von der Rückeroberung russisch besetzter Gebiete abhalten lassen. Die Ukraine verfüge über „alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden“, hieß es in einer Mitteilung der Abteilung für strategische Kommunikation vom Dienstag.
Die russischen Besatzer hätten den Staudamm im Süden der Ukraine „aus Angst vor der ukrainischen Armee“ gesprengt, schrieb das Militär auf Telegram. Die russischen Truppen könnten den professionell ausgebildeten und mit neuesten Waffen ausgestatteten Ukrainern nicht standhalten, hieß es weiter.
Scholz: „Eine neue Dimension“
Bundeskanzler Olaf Scholz warf Russland unterdessen vor, immer stärker zivile Ziele zu attackieren. „Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“, sagte der Kanzler am Dienstag. Er antwortete beim „Europaforum“ des WDR in Berlin auf eine Frage nach möglichen Konsequenzen aus der Staudammexplosion. Die russischen Streitkräfte würden auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen. „Deshalb ist das etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt.“
FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann verurteilte die Sprengung im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Dieser Angriff Russlands auf den Kachowka-Stausee ist ein weiteres unvorstellbar grauenhaftes Kriegsverbrechen. Es zeigt einmal mehr, zu welch brutalem Vorgehen Putin bereit ist. Es beweist auch: Dieses Regime will niemals verhandeln.“ Mit Putins Russland werde es keinen Frieden geben, so Strack-Zimmermann weiter. „Wir müssen daher weiterhin alles und mehr dafür tun, um die Ukraine weiter militärisch zu unterstützen und den Menschen vor Ort auch zu helfen.“
„Als Kriegswaffe missbraucht“
Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich am Dienstag im Rahmen ihrer Lateinamerika-Reise im brasilianischen São Paulo. Die Grünen-Politikerin sagte, dass für „diese menschengemachte Umweltkatastrophe“ es nur einen Verantwortlichen gebe, nämlich „der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“. Mit dem Kachowka-Damm werde ein ziviler Staudamm in Nähe eines Kernkraftwerks „als Kriegswaffe missbraucht“ und das Leben der Menschen in der Umgebung „in höchste Gefahr gebracht“, so Baerbock.
Die Außen-Politikerin versicherte, dass in der Bundesregierung „mit Hochdruck“ an einem genauen Lagebild gearbeitet werde. Dies geschehe in enger Abstimmung mit der Ukraine, den anderen Staaten der Siebener-Gruppe der großen westlichen Industrienationen (G7) und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA).
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des Staudamms. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilistinnen und Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb Stoltenberg am Dienstag auf Twitter. „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“
EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich angesichts der schweren Explosion bestürzt. „Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm“, schrieb er am Dienstag auf Twitter. „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen – und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen.“ Er werde das Thema beim EU-Gipfel Ende Juni ansprechen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen, schrieb er weiter. „Meine Gedanken sind bei allen von der Katastrophe betroffenen Familien in der Ukraine.“
Der britische Außenminister James Cleverly bezeichnete die Sprengung ebenfalls als „Katastrophe“ und „Kriegsverbrechen“. „Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist eine abscheuliche Tat“, schrieb Cleverly auf Twitter. „Vorsätzliche Angriffe auf rein zivile Infrastruktur sind ein Kriegsverbrechen.“ Der Minister betonte: „Das Vereinigte Königreich steht bereit, die Ukraine und die von dieser Katastrophe Betroffenen zu unterstützen.“ Zur Frage, wer für die Zerstörung verantwortlich ist, äußerte sich Cleverly zunächst nicht.
Baltische Staaten machen Russland verantwortlich
Die Präsidenten der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen haben unterdessen Russland direkt für die Zerstörung eines wichtigen Staudamms im Süden der Ukraine verantwortlich gemacht. „Der russische Terrorismus hat gerade ein neues Ausmaß erreicht“, twitterte der lettische Staatschef Egils Levits.
Erstlands Präsident Alar Karis schrieb ebenfalls von einem „Terrorakt“. Litauens Staatschef Gitanas Nauseda von einem „Kriegsverbrechen“. Alle drei forderten, Russland zur Rechenschaft zu ziehen.
Der tschechische Außenminister Jan Lipavsky warf der Führung in Moskau vor, die Grenzen ihrer Aggression immer weiter zu verschieben. „Der Angriff auf den Staudamm von Nowa Kachowka oberhalb von bewohnten Gebieten ist vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Zivilisten“, schrieb er auf Twitter. Solch ein brutales Vorgehen müsse bestraft werden.
RND/mit Agenturmaterial