Verfolgung von muslimischer Minderheit

Masseninhaftierungen in China: Uiguren-Bezirk hat die höchste Gefangenenrate der Welt

Eine Angehörige der uigurischen Minderheit in China versucht einen Polizisten zu packen, während einer Demonstration in Ürümqi in der Unruheregion Xinjiang in Nordwestchina. (Archivbild)

Eine Angehörige der uigurischen Minderheit in China versucht einen Polizisten zu packen, während einer Demonstration in Ürümqi in der Unruheregion Xinjiang in Nordwestchina. (Archivbild)

Peking. Landwirt Rozikari Tohti in der chinesischen Provinz Xinjiang war als ruhiger Mann bekannt, ein hingebungsvoller Familienvater von drei Kindern. Er gehörte zwar der muslimischen Minderheit der Uiguren an, doch er war nicht im Mindesten an Religion interessiert. Umso schockierter war sein Cousin, Mihrigul Musa, als er herausfand, dass Tohti unter dem Vorwurf des „religiösen Extremismus“ für fünf Jahre ins Gefängnis geschickt worden war. „Ich hätte niemals gedacht, dass er festgenommen würde“, sagt Musa, der jetzt in Norwegen im Exil lebt. „Wenn du ihn siehst, würdest du genauso empfinden. Er ist so ernst.“

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Aber damit nicht genug. Musa fand auch heraus, dass Tohtis jüngerer Bruder ebenfalls inhaftiert und zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt worden war - in diesem Fall wegen „Versammelns der Öffentlichkeit zwecks Störung des Friedens“. Tohtis Nachbar Nurmemet Dawut, wie er ein Landwirt, wurde unter demselben Vorwurf und dem Anklagepunkt „Verursachen von Streit und Provozieren von Ärger“ sogar für elf Jahr ins Gefängnis geschickt.

Ethnische Minderheit wird gezielt verfolgt

Alle drei Uiguren leben im Bezirk Konasheher in Xinjiang, dem Kernland der Uiguren in China, und was ihnen widerfuhr, sind alles andere als Einzelfälle. Allein in Konasheher ist jeder 25. Einwohner unter Vorwürfen im Zusammenhang mit Terrorismus zu Gefängnis verurteilt worden - die höchste bekannte Gefangenenrate auf der Welt, wie eine Untersuchung der Nachrichtenagentur AP ergeben hat.

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Eine von ihr eingesehene und teilweise verifizierte Liste führt die Namen von mehr als 10.000 Uiguren auf, die allein in diesem Bezirk - einem von Dutzenden in Xinjiang - inhaftiert worden sind. Die Zahlen werfen ein Schlaglicht auf das schiere Ausmaß der brutalen Kampagne der Pekinger Regierung gegen diese Bevölkerungsgruppe, die offiziell als „Krieg gegen den Terrorismus“ bezeichnet wird und nach Schätzungen eine Million Menschen oder sogar noch mehr in  Internierungslager und Gefängnisse gebracht hat.

Die Liste bestätigt auch, was Familienangehörige und Menschenrechtsgruppen seit Jahren sagen: China stützt sich auf ein System von langjährigen Einsperrungen, um die Uiguren in Schach zu halten, benutzt Gesetze als Mittel zur Unterdrückung.

Vor dem Hintergrund scharfer internationaler Kritik haben chinesische Regierungsvertreter 2019 die Schließung von Kurzzeit-Internierungslagern bekanntgegeben, die nicht der allgemeinen Gerichtsbarkeit unterstanden, das heißt, in die Menschen ohne Anklage und Prozesse gesteckt worden waren. Die Aufmerksamkeit hat sich auf diese Camps konzentriert. Doch Tausende Uiguren vegetieren weiter über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg in Gefängnissen dahin - unter Terrorismus-Vorwürfen, die Experten zufolge aus der Luft gegriffen sind.

Haftstrafen zwischen zwei und 25 Jahren

Konasheher ist typisch für das ländliche südliche Xinjiang, mehr als 267.000 Menschen leben in diesem Bezirk. Die hier verhängten Gefängnisstrafen reichen von zwei bis 25 Jahre, durchschnittlich sind es neun, wie die Liste zeigt. Während die meisten der dort aufgeführten Menschen 2017 verurteilt wurden, wie Uiguren im Exil sagen, sind ihre Strafen so lang, dass sich die große Mehrheit weiter im Gefängnis befinden dürfte.

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Aufgegriffen wurden Leute aus allen Lebensbereichen, Männer, Frauen, Junge und Ältere. Sie hatten nur eines gemeinsam: Sie alle waren Uiguren. Experten zufolge zeigt das klar, dass Menschen schlicht aufgrund ihrer Ethnie ins Visier genommen wurden - eine Schlussfolgerung, die von den chinesischen Behörden vehement zurückgewiesen wird.

Die Urteile seien gemäß den Gesetzen erfolgt, beteuert beispielsweise der Sprecher der Provinz Xinjiang, Elijan Anayat. „Wir werden niemals bestimmte Regionen, ethnische Gruppen, Religionen und noch viel weniger die Uiguren ins Visier nehmen.“

Echtheit der Gefangenenliste verifiziert

Die Liste wurde von einer anonymen Quelle geleakt, die sich als Angehörige der Han - der Bevölkerungsgruppe, die in China in der Mehrheit ist - und als „Gegner der Politik der chinesischen Regierung in Xinjiang“ beschrieb. Sie wurde zunächst dem Gelehrten Gene Bunin in Xinjiang zugespielt und dann vom uigurischen Linguisten Abduweli Ayup, der in Nowegen im Exil lebt, der AP zugeleitet. Diese verifizierte die Echtheit unter anderem anhand von Interviews mit Uiguren, juristischen Papieren und Aufzeichnungen von Telefonaten mit chinesischen Regierungsvertretern.

Ayup, der Linguist, hat selbst die andauernde Unterdrückung der Uiguren verfolgt und dokumentiert. Aber diese Liste habe ihn umgeworfen, sagt er. Ayup fand darauf Nachbarn, einen Cousin und einen hoch respektierten und bewunderten Schullehrer. Letzterer, Adil Tursun, war der einzige in der Oberschule in Toquzaq, der uigurische Schüler auf Chinesisch unterrichten konnte. Er gehörte der kommunistischen Partei an, und jedes Jahr erzielten seine Schüler bei Chemie-Prüfungen die besten Noten in der ganzen Stadt.

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Umso weniger machte sein Name auf der Liste Sinn für Ayup. „Die Bezeichnung der Verbrechen, Verbreitung extremistischer Gedanken, Separatismus (...) diese Vorwürfe sind absurd“, sagt er.

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Dunkelziffer vermutlich noch höher

Vermutungen gehen dahin, dass die tatsächliche Zahl der inhaftierten Uiguren sogar noch höher ist als die Liste besagt. Aber sogar nach konservativer Schätzung liegt die Gefangenerate in Konasheher zehn Mal höher als die in den USA, einem der Länder mit den meisten Häftlingen gemessen an der Bevölkerungszahl. Sie ist auch 30 Mal höher als die Rate in China als Ganzem, wie aus staatlichen Statistiken von 2013 hervorgeht - den letzten, die veröffentlicht wurden.

Darren Byler hat das Masseninhaftierungssystem in Xinjiang intensiv studiert. Er sagt, dass die meisten Festnahmen willkürlich seien, etwa Leute beträfen, die Verwandte im Ausland oder bestimmte Apps auf ihr Handy geladen hätten. „Es ist wirklich bemerkenswert“, formuliert es Byler. „An keinem anderen Ort haben wir erlebt, dass ganze Bevölkerungsgruppen als Terroristen beschrieben oder angesehen werden.“

RND/AP

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