Putin und das Enthauptungsvideo: Wie schuldig macht sich die russische Bevölkerung?
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Russlands Präsident Wladimir Putin.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Es passiert immer wieder, wenn unsere Debatte über Auswege aus dem Ukraine-Krieg allzu akademisch wird oder der Wunsch zu sehr Vater unserer Gedanken wird, dass die Realität des Gemetzels besonders brutal über uns hereinbricht.
So ist es jetzt wieder. Gerade erhob mancher im Zuge des königlichen Besuchs aus Großbritannien die deutsch-britische Nachkriegsversöhnung zum Vorbild für den künftigen Umgang mit Russland; verklangen noch österliche Friedensappelle, da werden wir mit einem Video konfrontiert, das uns einmal mehr den Horror dieses Krieges vor Augen führt.
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Es zeigt mutmaßlich die Enthauptung eines ukrainischen Gefangenen durch russische Kämpfer, gefilmt wahrscheinlich im vorigen Jahr in der Ukraine, angeblich durch russische Söldner. Anfangs schreit das Opfer, fleht, bettelt um sein Leben. Dann hört man nur noch, wie der Täter von Kameraden bejubelt und angefeuert wird, den Kopf des Ukrainers abzutrennen und in die Kamera zu halten.
Man will sich abwenden
Man will es nicht sehen, man will sich abwenden, und tatsächlich sollte das niemand anschauen. Doch abwenden dürfen wir uns nicht. Denn diese nackte, unzivilisierte Gewalt führt uns vor Augen, was jetzt gerade, im Jahr 2023, in unserer Nachbarschaft geschieht. Gerade weil da seit Monaten gekämpft wird, reißt uns das Video aus der schleichenden Gewöhnung an diesen europäischen Krieg.
Das gilt vielleicht nicht für jene, die ideologisch im Schützengraben sitzen. Die einen sprechen von Fälschung, wie es auch der Kreml behauptet, oder sie pochen darauf, dass Kriegsverbrechen in jedem Krieg von jeder Seite begangen werden. Die anderen fühlen sich schulterzuckend bestätigt darin, dass Russland ein Terrorstaat auf einem Vernichtungsfeldzug ist.
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Beides wird der komplexen Lage nicht gerecht. Zum einen war die Echtheit des Videos, das am Mittwoch auftauchte, anfangs tatsächlich nicht von unabhängiger Seite verifiziert. Zum anderen hatte sich zu Beginn der Woche mit der Veröffentlichung geheimer US-Unterlagen zum Ukraine-Krieg gezeigt, dass sich selbst mit Fakten, wenn sie gezielt gestreut werden, der Informationskrieg befeuern lässt.
Es braucht keine neuen Videobeweise für Russlands Brutalität
Und doch lassen sich schon jetzt, unabhängig vom Hintergrund des konkreten Videos, allgemeine Schlüsse ziehen. Denn es braucht ja keine neuen Videobeweise für die Brutalität, mit denen Russland vorgeht. Dieser Tage ist es ein Jahr her, dass die Kriegsverbrechen von Butscha und Irpin bekannt wurden, die Putins Kämpfer an der ukrainischen Bevölkerung begangen haben: Mehr als 400 Ukrainerinnen und Ukrainer, fast alle Zivilistinnen und Zivilisten, wurden offenkundig unter russischer Besatzung erschossen, gefoltert oder erschlagen. Noch einmal: nicht im Zuge von Gefechten, sondern durch die Besatzer.
Dass nach diesen Enthüllungen nicht nur die Regierung in Kiew, sondern vor allem die ukrainische Gesellschaft nicht mehr bereit war, einen Kompromiss mit Putin zu suchen, zu dem sicher die Besetzung umkämpfter Gebiete gehört hätte, liegt auf der Hand. Wenn nun Videos auftauchen, die an die blinde Mordlust islamistischer IS-Terroristen erinnern, rückt das mögliche Waffenstillstandsgespräche noch einmal in weitere Ferne – zumal bereits vor 20 Jahren über russische Kriegsverbrechen in Tschetschenien berichtet wurde, zu denen ebenfalls Verstümmelungen und Enthauptungen zählten.
Wie groß ist die Mitschuld der russischen Bevölkerung?
Doch auch für den Westen wirft all das neue Fragen auf. Eine davon ist die Frage nach der Mitschuld der russischen Bevölkerung. Es ist richtig, dass Putin in den vergangenen Jahrzehnten jede Opposition aus dem Weg geräumt hat, dass er Kritikerinnen, Kritiker und Andersdenkende unterdrückt und wegsperrt und seine allgegenwärtige Propaganda den russischen Normalbürger rund um die Uhr manipuliert. Aber galt all das nicht auch für die Deutschen im Nationalsozialismus? Entbindet es die Russinnen und Russen von einer kollektiven Verantwortung – zumal heute, im Internetzeitalter, Informationen und Gräuelvideos sie eben doch erreichen können, sofern sie nicht die Augen aktiv verschließen und sich allzu willfährig belügen zu lassen? Und was heißt das für den Traum von baldiger Waffenruhe?
Krieg in der Ukraine: weltweites Entsetzen über aufgetauchtes Enthauptungsvideo
Die mutmaßliche Enthauptung eines ukrainischen Kriegsgefangenen löst Entsetzen und Fassungslosigkeit aus.
© Quelle: dpa
Wer heute sagt, sogar die Deutschen seien von der Weltgemeinschaft nach Krieg und Holocaust wieder aufgenommen worden, also müsse man das eines Tages auch unseren russischen Fastnachbarn zugestehen, hat zwar recht. Er sagt das aber zu früh. Denn vor der Versöhnung mit den Deutschen stand ein langer Weg von ihrer militärischen Niederlage über die Verurteilung von Kriegsverbrechern und die Aufarbeitung der kollektiven Schuld bis zur Demokratisierung und Übernahme historischer Verantwortung. Wer das beim Blick nach Moskau überspringt, muss sich fragen lassen, weshalb.
So richtig es bleibt, sich eine große diplomatische Initiative zu wünschen, auf die sich etwa die EU einschwört, um dann die Türkei und China einzubinden und einst Russland und Ukraine zu Gesprächen zu bringen – so realistisch muss man angesichts der russischen Kriegsverbrechen bleiben: Eine Lösung steht und fällt mit Putins Bereitschaft zum Rückzug.