Ihre einzige Fähigkeit ist Kämpfen: Taliban haben Probleme mit jungen Aufständischen
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Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer patrouillieren zur Feier ihrer Machtübernahme durch Kabul (Archivbild). Die Führung des Landes hat Probleme damit, die jungen Männer unter Kontrolle zu bekommen.
© Quelle: Rahmat Gul /dpa
Kabul. Nach Jahren des Aufstandes müssen die Extremisten jetzt lernen zu regieren. Und versuchen, Ordnung in die eigenen Reihen zu bringen. Denn viele ihrer jungen Kämpfer kennen nichts anderes als Krieg und Kriegsmethoden – und können sich nur schwer davon trennen.
Fatima Abdullahi und ihre Familie waren auf dem Heimweg von einer Hochzeit. Alle wurden still, als sich ihr Auto dem Kontrollpunkt in Kabul näherte, an dem zwei Taliban mit automatischen Gewehren Wache standen. Einer der Kämpfer leuchtete ins Fahrzeug. Abdullahi saß auf dem Rücksitz, ihre zwei Kinder auf dem Schoß, ihre jüngere Schwester Sainab neben sich. Der Kämpfer winkte sie durch. Sekunden später fielen zwei Schüsse. Sainab sackte zur Seite. Fatima Abdullahi schrie, flehte Sainab an, doch aufzuwachen. Aber die 25-Jährige war tot.
„Ich habe ihr Gesicht in meine Hände genommen, aber sie bewegte sich nicht. Dann sah ich, dass hinter ihr Blut war“, schilderte Abdullahi der Nachrichtenagentur AP.
Taliban-Bedienstete sprachen von einem Irrtum. Demnach hatte einer der Wachposten nicht mitbekommen, dass der andere dem Auto freie Fahrt gegeben hatte. Beide Kämpfer wurden festgenommen, und die Taliban-Regierung entschuldigte sich für die tödlichen Schüsse. Funktionäre suchten Sainabs Eltern auf, gaben ihnen 600.000 Afghanis (etwa 5300 Euro) und versprachen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werde.
Einzige Fähigkeit: Kämpfen
Sainabs Tod wirft ein Schlaglicht auf ein Dilemma, mit dem Afghanistans neue Herrscher konfrontiert sind. Sie müssen für Disziplin unter den Tausenden jungen Kämpfern sorgen, die grobe und brutale Methoden aus der Zeit des Aufstandes in ihre neuen Rollen als Sicherheitskräfte übertragen. Diese jungen Männer kennen nichts anderes als Krieg, die meisten haben keine Schulausbildung, können nicht lesen oder schreiben. Ihre einzige Fähigkeit ist Kämpfen.
In der Hauptstadt Kabul haben viele Leute Angst vor ihnen. Fünf Monate nach der Machtübernahme fahren auf den Straßen weiter Lastwagen mit Taliban auf der Ladefläche herum, ihre Waffen ragen in die Luft. Es sind weniger als im vergangenen August, als die Taliban in Kabul einrollten, aber sie sind weiter äußerst sichtbar.
Die Kämpfer zu demobilisieren ist schwer, denn es gibt für sie wenige Alternativen. „Zu vielen Kämpfern fehlt es an der Bildung und Ausbildung, um ins zivile Leben einzutreten, und sogar jene, die die Fähigkeiten besitzen, können wegen der wirtschaftlichen Krise im Land keine Arbeit finden“, sagt Michael Kugelman, ein hochrangiger Asien-Experte der US-Denkfabrik Wilson Center.
Es sind nicht nur einzelne Kämpfer, die brutal vorgehen, wenn es zum Beispiel darum geht, andere Meinungen zu ersticken. Die Taliban haben Demonstrantinnen mit Pfefferspray oder Schüssen in die Luft auseinander getrieben, Journalisten zusammengeschlagen und festgenommen. Besonders furchterregend waren in den vergangenen Wochen nächtliche Razzien in den Häusern von Protestierenden.
Obaidullah Bahir ist ein sozialer Aktivist und Dozent an der American University of Afghanistan. Er befürchtet, dass sich die Taliban Taktiken früherer afghanischer Geheimdienstbehörden, die für ihre Brutalität bekannt waren, zu eigen machen. Diese Praktiken reichen in die Zeit der prokommunistischen Regierung in den 1980er Jahren zurück, als Hunderte Menschen zusammengetrieben und getötet wurden.
Taliban bilden eigenes Geheimdienst-Generaldirektorat
Nach der Vertreibung der Taliban von der Macht 2001 nahm die als Nationales Direktorat für Sicherheit bekannte – und von den USA unterstützte – Geheimdienstbehörde Tausende Afghanen in Gewahrsam, unter dem Vorwurf, Taliban zu sein. Menschenrechtsgruppen zufolge verschwanden Hunderte in Geheimgefängnissen. Die Taliban haben jetzt ihr eigenes Geheimdienst-Generaldirektorat gebildet.
„Wir erwarten häufig, dass die Opfer die ersten sind, die wissen, was Schmerzen sind und diese verhindern, wenn sie an der Macht sind. Aber oft treiben sie es am Ende noch einen Schritt weiter“, sagt Bahir.
Politische Führungspersonen rund um die Welt verfolgen genau, wie die Taliban den Übergang vom Aufstand zum Regieren bewältigen, in einer Zeit wirtschaftlichen Zusammenbruchs und verbreiteten Hungers im Land. Bislang sind sie strikt ihren eigenen Vorstellungen gefolgt: Sie haben versucht, sich Realitäten anzupassen, die es verhindern, dass sie so herrschen wie in ihrer vorherigen Zeit an der Macht vor mehr als 20 Jahren, aber es zugleich abgelehnt, andere am Regieren zu beteiligen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass das Taliban-Übergangskabinett versucht, etwas Ordnung in die eigenen Reihen zu bringen. Viele Kämpfer tragen jetzt die Tarnuniformen der früheren afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte. Latfullah Hakimi, Chef der sogenannten Reinigungskommission der Taliban, die Beschwerden über Kämpfer nachgeht, spricht von Tausenden ehemaligen Taliban, die inhaftiert oder entlassen worden seien – wegen verschiedener Verstöße von Korruption bis hin zu Einschüchterung, wie er der AP sagte.
Taliban-Führung will brutale Strafen begrenzen
Die Führung hat sich auch bemüht, die brutalen Strafen zu begrenzen, für die die Taliban in ihrer ersten Zeit an der Macht bekannt waren. Dazu zählten öffentliche Hinrichtungen von Mördern und das Abhacken der Hände von Dieben. In den ersten Monaten seit der Machtübernahme im vergangenen August haben Kommandeure auf unterer Ebene oft spontane Bestrafungen wegen mutmaßlicher Verbrechen ausgeführt, so etwa öffentliche Beschämung von Dieben. Mittlerweile werden aber mehr Tatverdächtige – von den Taliban gebilligten – Richtern vorgeführt, die dann entscheiden. Racheattacken haben Taliban-Führer öffentlich verboten und sind damit, bis auf wenige Ausnahmen, relativ erfolgreich gewesen.
Daheim in Kabul trauert Sainabs Mutter Mariam um ihre Tochter. Sie weine an den meisten Tagen, sagt sie. „Sie war mein jüngstes Kind, liebenswert.“ Sie wünschte sich, sagt Mariam, dass die Taliban sie selbst anstatt Sainab getötet hätten. Ihre Tochter stand zwei Monate vor der Hochzeit, als die Schüsse fielen.
RND/AP