Das gespaltene Land: die Wut der Geimpften
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Eine Leipziger Demonstrantin protestiert gegen die „Querdenker“-Bewegung.
© Quelle: imago images/opokupix
Der Mann weiß, wovon er spricht. Im März litt er selbst an Corona, war noch ungeimpft. Er gehört zu den Lieblingen des Landes, gibt sich volksnah und freundlich. Jetzt aber ist er zornig. In seinem Haussender RTL schimpft er auf den „Starrsinn der Impfverweigerer“. Auf diese Menschen, denen er „mit großem Unverständnis“ begegne. Auf die Impfverweigerer, die „zig Millionen Menschen quasi in Geiselhaft“ nähmen.
Günther Jauch ist nicht allein mit seiner Wut. Lange waren es die Impfgegner, die in der Pandemie als Fraktion der Zornigen galten. Sie waren es, die lauthals ihren Unmut über den gefühlten Freiheitsentzug zur Kenntnis gaben, demonstrierten, protestierten. Die Mehrheit, von der grell-resoluten Minderheit als „Schlafschafe“ und „Systemlinge“ verlacht, litt schweigend. Doch nun brodelt es unter den Duldsamen.
Der Frust der Geimpften wächst. „Wir haben zu lange über die Wut der Ungeimpften geredet“, schrieb der Journalist Mathieu von Rohr jüngst bei Twitter. „Es wird Zeit, dass wir über die Wut der Geimpften reden.“ Mehr als 20.000 Menschen klickten auf „Gefällt mir“.
Verweigerung aus Trotz
Wer leidet, sucht Schuldige. Das ist ein menschlicher Reflex. Aber man muss unterscheiden. Die meisten Ungeimpften sind keine Schwurbler, Querulanten, Verwirrte, Corona-Leugner. Es gibt Gründe, sich nicht impfen zu lassen. Das Problem sind die grundlosen Verweigerer. Die radikalen Impfgegner. Die trotzigen Beharrer. Die Unsinn-Poster bei Facebook. Die wachsende Wut der Geimpften richtet sich gegen diejenigen, die längst geimpft sein könnten, aus fadenscheinigen Gründen aber opponieren.
In kaum einer anderen Region der Erde macht eine Minderheit ein solches Gewese um den Piks wie im deutschsprachigen Teil Europas. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Tiefe Staatsskepsis dient als Nährboden für merkwürdiges Märtyrertum, auch esoterische Verwirrung spielt eine Rolle und vernunftferner Glaube an von der „Schulmedizin“ ignorierte Selbstheilungskräfte der Natur. Hinzu kommen ein schlichter Mangel an Aufklärung, die Flucht vor der Komplexität in einfache Verschwörungserzählungen – und sicher auch ein guter Schuss Wohlstandsverwahrlosung. Man kann aber nicht auf Kosten der übrigen Gesellschaft totale Freiheit für sich selbst beanspruchen. Kein Mensch ist eine Insel.
Meryl Meister ist Intensivschwester. Sie arbeitet auf der Corona-Station des Klinikums Stuttgart. Im Dreischichtsystem arbeitet die 28-Jährige gegen den Tod. „Corona ist eine Scheißkrankheit“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. „Unberechenbar. Und es gibt keine Lösung.“ Sechs Patienten liegen mit Covid-19 auf ihrer Station. Vier werden künstlich beatmet. Alle sechs sind ungeimpft.
Diese Unvernunft macht auch die Pflegerin wütend. „Was läuft in unserer Gesellschaft falsch?“, fragt sie. „Ist einem der Nachbar so egal?“ Sie hat kein Verständnis mehr für die Diskussionen der Politik, kann auch keine Talkshows mehr sehen. „Das erste Mal einen Leichensack zumachen vergisst man nie“, sagt sie. Ihre Patienten lässt sie den eigenen Zorn nicht spüren. Aber er ist da.
Die deutsche Politik ließ lange Milde walten mit jener Minderheit, die alles, was ihre individuelle Entfaltung behindert, als Unterdrückung interpretiert und sich in ihrem dumpfen Zorn eingedreht hat wie Schlittenhunde in ihre Schneekuhle. Dass die Ampelkoalitionäre gar das „Ende der Pandemie von nationaler Tragweite“ ausriefen, dürfte nicht nur als Wiederertüchtigung des Bundestags gedacht gewesen sein, sondern auch als PR-Stunt, als Gute-Laune-Zuckerl zum Legislaturstart. Ampel beginnt, Pandemie verrinnt! Was für ein Irrtum.
Anderswo wurde man schneller streng. Österreich wird im Februar zur europäischen Blaupause für die allgemeine Impfpflicht. Zur Begründung zitierte Bundeskanzler Alexander Schallenberg sinngemäß den österreichischen Philosophen Karl Popper: „Gegenüber den Intoleranten kann man nicht Toleranz üben, sonst stirbt die Toleranz.“ In Griechenland müssen sich über 60-Jährige bis zum 16. Januar mindestens einmal impfen lassen. Andernfalls droht ihnen von diesem Zeitpunkt an eine monatliche Geldbuße von 100 Euro. Deutschland hingegen ließ, gelähmt von Wahlkampf und Regierungswechsel, die Corona-Bekämpfung schleifen. Wenn sich 50 Menschen lieber am Flughafen von Lübeck das dubiose Serum eines selbsternannten Impfstoffentwicklers einflößen lassen, als auf zugelassene, global bereits 3,2-Milliarden-mal verimpfte Vakzine zu vertrauen, ist etwas massiv aus dem Ruder gelaufen.
Zu viel versprochen, zu schnell
Und so wächst die Wut auf allen Seiten. Die Wut der Geimpften, die alles mitgemacht, sich an jede Regel gehalten haben, zwei- bis dreimal geimpft sind und jetzt trotzdem wieder einen Test für den Friseur und das Theater brauchen. Und auch die Wut der Ungeimpften, die sich als Menschen zweiter Klasse abgestempelt zu staatsbürgerlichem Wohlverhalten gezwungen fühlen. Den einen hatte man vorschnell versprochen, mit der Impfung kehre der Alltag zurück. Den anderen hatte man vorschnell versprochen, es werde im Sinne des gesellschaftlichen Friedens keine Impfpflicht geben. Doch da ging das Land noch davon aus, dass jeder, der sich impfen lassen kann, dies auch tun werde. Das war ein Irrtum.
„Spätes Handeln geht meistens auf Kosten der schweigenden Mehrheit, weil man der lauten Minderheit gefallen will“, kritisierte der Ethiker und Theologe Peter Dabrock, von 2016 bis 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, im „Tagesspiegel“. Er habe Angst, sagte er, dass aus der Wut der Impfgegner bald „eine noch viel stärkere Wut der geimpften Mehrheit“ werde, sagte Dabrock. Angesichts der lange zögerlichen Politik zeige sich eine große Politikverdrossenheit der gesellschaftstragenden Schicht der schweigenden Mitte. „Dieser dramatische Vertrauensverlust bereitet mir zigmal mehr Sorgen als die bellende kleine Minderheit.“
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Vor vielen Impfzentren gibt es lange Schlangen.
© Quelle: imago images/Reichwein
In der Tat hat es die Politik versäumt, den Geimpften über das ewige Mantra „Impfen ist der Weg aus der Pandemie“ hinaus reinen Wein über weitere Konsequenzen einzuschenken. Gewiss: Impfen schützt vor schweren Verläufen. Je mehr Geimpfte, desto besser für alle. Aber: Der Impfschutz lässt nach. Auch Geimpfte können die Seuche weitertragen. Mit zwei Piksen ist es nicht getan. Der Winter wird eine heftige vierte Welle bringen. All das war lange bekannt. Klar ausgesprochen wurde es kaum.
Die geimpfte Bevölkerung gewann ein falsches Gefühl von Sicherheit, das in diesen Wochen kollabiert. Die Folge der politischen Tatenlosigkeit ist, dass nun auch die vielen Vernünftigen und Solidarischen angesichts neuer Einschränkungen für alle die letzte Zuversicht verlieren. Hatte man ihnen nicht versprochen, das Leben werde sich wieder normal anfühlen, sobald zwei Aufkleber im Impfpass pappen? Stattdessen beginnt alles von vorn.
Der Zorn darüber bricht sich Bahn. Er trifft statt der politischen Entscheider aber immer heftiger die Ungeimpften, über die sich Kübel voll angestauter Aggression ergießen. Das wiederum macht es publizistischen Giftspritzern leicht, die Legende von der aufopferungsvollen Minderheit im Kampf für Demokratie zu pflegen. Beim Rechtsauslegerblog „Achse des Guten“ fabuliert man über die Ungeimpften als „Kaste der Unberührbaren“, die im „grassierenden Wahn“ der „sogenannten Pandemie“ von den Geimpften als „Todesengel“ und „potenzielle Mörder“ beschimpft würden. All diese toxische Spaltungslyrik wäre vermeidbar gewesen, wenn die Politik etwas aufrichtiger gewesen wäre.
Verhärtete Fronten
„Die Wut der Geimpften hat ein beträchtliches Ausmaß angenommen“, sagt Urte Scholz, Professorin für Angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität Zürich, dem Magazin „20min“. Der Grund: Die Mehrheit der Menschen sähe das Erreichen der Herdenimmunität durch Impfen als eine Art solidarischen Gesellschaftsvertrag, gegen den Einzelne nun verstießen.
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Sie werden damit automatisch zum Sündenbock, obwohl eben auch die Politik ihren Anteil hat an der Misere: schlechte Impfstoffverteilung, mangelhafte Aufklärung, zu wenige mobile Impfteams in sozialen Brennpunkten, zu viel Rücksichten auf Lobbys und Gewohnheitsrechte, zu widersprüchliche Maßnahmen – der ideale Nährboden für Gerüchte über massive Impfschäden, Vorurteile, Ängste und Ausgrenzungsgefühle bis hin zur Diskriminierung. Scholz: „Ein beträchtlicher Teil der Ungeimpften lässt sich nicht impfen, weil sie sich zu stark unter Druck gesetzt fühlen.“
Die Fronten sind derart verhärtet, dass eine Impfpflicht möglicherweise auch manchem halbherzig Ungeimpften einen Ausweg aus seiner lange kultivierten Trotzhaltung ermöglichen könnte. Denn dann gäbe es keinen Rechtfertigungsdruck mehr gegenüber der eigenen sozialen Blase. Die freie Entscheidung über die eigene Impfung kann ohnehin nur so lange wirklich freiwillig bleiben, wie sie der Gemeinschaft nicht massiv schadet. Und wer in der Pandemie nach Freiheit ruft, muss erklären, wie er diese Freiheit erreichen will, ohne dass täglich Hunderte sterben. Aber allein Schuld an der vierten Welle? Das sind die Ungeimpften nicht.
„Die Pandemie wird nicht dadurch gestoppt, dass Ungeimpfte ausgeschlossen werden“, schreibt der Politikwissenschaftler Yaak Pabst in „Der Freitag“. „Die Regierenden sind mit der 2G-Regel und einer Impfpflicht fein raus, weil sich alle auf die individuelle Ebene konzentrieren, anstatt über die sozialen Bedingungen zu sprechen, die hohe Impfquoten erreichen.“ Impfvertrauen sei aber keine individuelle, sondern „eine gesellschaftliche und soziale Frage. Klar wäre es wichtig, dass sich so viele wie möglich impfen lassen. Das geht aber ohne Zwang, Druck und Strafe besser als mit – Portugal, Spanien, Island und Dänemark, ja selbst Bremen haben es vorgemacht.“
Wenn die Betten blockiert sind
Sie versuche, die Lage rational zu sehen, sagt auch eine 63-jährige Patientin in Ulm, „doch manchmal überkommt mich die Wut“. Sie wartet auf eine Hüftgelenksoperation. Gerade wurde ihr Termin wieder „auf unbestimmte Zeit“ verschoben – Coronapatienten blockieren die Betten. Die Folge: Schmerzen, Ungewissheit und seelische Belastung. Nach Auswertungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind in der zweiten Pandemiewelle von Oktober 2020 bis Februar 2021 die Fallzahlen bei Brustkrebsoperationen um 6 und bei Darmkrebs um 18 Prozent gesunken.
Im gleichen Zeitraum wurden etwa 22 Prozent weniger Hüftprothesen operiert. Es gebe Tage, da könne sie kaum laufen, sagt die Frau. Die Schuld möchte sie nicht allein den Ungeimpften geben. Doch sie bekomme „eine Wut auf solche, die an Verschwörungstheorien glaubten und sich deshalb nicht impfen ließen“.
„Jeder kann wütend werden, das ist einfach“, schrieb der griechische Philosoph Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus. „Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art – das ist schwer.“ Das gilt erst recht, wenn alle müde, zermürbt und ratlos sind.