Keir Starmer - der Chefankläger des britischen Premiers
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Sir Keir Starmer, Vorsitzender der Labour-Partei, spricht vor seinem Haus mit Journalisten.
© Quelle: Aaron Chown/PA Wire/dpa
London. Seine erste Fragestunde im britischen Parlament fiel zusammen mit dem traurigen Höhepunkt der Coronavirus-Krise. Es war Mai und gerade wurde berichtet, Großbritannien sei das zahlenmäßig am schlimmsten von der Pandemie betroffene Land.
Nun stand Sir Keir Starmer erstmals als neuer Oppositionschef Premierminister Boris Johnson in der wöchentlichen Fragestunde gegenüber. Und fragte stellvertretend für das Volk: “Wie um alles in der Welt kam es dazu?”
Es war ein Satz, der bis heute nachhallt. Der im April gewählte Labour-Vorsitzende wurde im Anschluss von den Medien als Gewinner des politischen Duells gekürt. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Vielmehr seziert der Jurist als Chef-Ankläger des Premiers jeden Mittwoch die Schwachstellen der Regierung mit akribischen Fragen und Detailwissen.
An diesem Montag ist der 57-Jährige 100 Tage im Amt. Seine Beliebtheitswerte klettern seit der Übernahme konstant nach oben. Mittlerweile würde die Bevölkerung lieber ihn als Regierungschef sehen als Johnson, wie kürzlich eine Umfrage des Instituts Opinium ergab.
Zwar stehen noch immer 43 Prozent der Befragten hinter den Tories, während Labour auf 39 Prozent kommt. Doch die Lücke schließt sich von Woche zu Woche mehr.
Starmer gilt als Schlüssel zum Erfolg. Hier ist er endlich, ein glaubhafter Herausforderer der Konservativen, auf den viele gemäßigte Labour-Anhänger seit Jahren gewartet hatten. Oder?
Unter den moderaten Sozialdemokraten ist die Hoffnung groß, dass sich Labour nach Jahren der Selbstzerfleischung, der Antisemitismus-Vorwürfe und des Kulturkampfs unter dem sozialistischen Vorgänger Jeremy Corbyn wieder als ernsthafte Alternative zu den Tories präsentieren kann.
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Eine Corona Warn-App würde kein Land hinkriegen? Der britische Premierminister Boris Johnson behauptete das zumindest. Labour-Chef Keir Starmer belehrte ihn eines Besseren - und verwies auf Deutschland.
© Quelle: dpa/RND Montage Behrens
Der 57-jährige Starmer will die Partei wieder mehr in die politische Mitte rücken und so jene Sitze im Norden Englands zurückerobern. Diese galten jahrzehntelang als “rote Mauer”, bei der letzten Wahl im Dezember aber verlor Labour viele der traditionellen Stammwähler – und fuhr eine historische Niederlage ein.
Starmer stammt aus der klassischen Arbeiterschicht – der Vater war Werkzeugmacher, die Mutter Krankenschwester – und wurde benannt nach dem Gründervater von Labour, Keir Hardie.
Aufgewachsen in einem Dorf in der südostenglischen Grafschaft Surrey, prägte seine Kindheit vor allem die schwere Krankheit seiner Mutter. Sie litt 50 Jahre lang unter der seltenen Erkrankung Morbus Still, die sie schlussendlich an den Rollstuhl band und dazu führte, dass sie nicht mehr alleine essen konnte. Beschwert aber habe sie sich nie, so Starmer, der als einziger seiner Geschwister das Gymnasium besuchte.
Nach seinem Universitätsabschluss in Oxford arbeitete der ehrgeizige Brite für eine damals revolutionäre Kanzlei von Menschenrechtsanwälten in London. 2008 wurde er von der damaligen Labour-Regierung zum Leiter der Generalstaatsanwaltschaft in England und Wales ernannt, der höchste Posten seiner Zunft. Er half unter anderem, Verurteilte in ehemaligen britischen Kolonien vor der Todesstrafe zu bewahren, wofür ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter schlug.
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Keir Starmer (2.v.l), Vorsitzender der Labour-Partei und Oppositionsführer, spricht im britischen Unterhaus bei den "Prime Ministers Questions" (Fragen an den Premierminister)
© Quelle: -/House Of Commons/PA Wire/dpa
Seit 2015 sitzt Starmer im Unterhaus und fiel da weder als Blairite auf, als Anhänger des seit dem Irak-Krieg verhassten Ex-Premiers Tony Blair, noch als Corbynite, also Fan der radikalen Linken. Auch wenn der zum gemäßigten linken Flügel gehörende Pro-Europäer als Brexit-Minister im Schattenkabinett den desaströsen Schlingerkurs seines Vorgängers mitzuverantworten hat, blieb das Versagen der Opposition beim Thema EU-Austritt nicht an ihm hängen.
Der verheiratete Vater von zwei Kindern habe nie Feinde gehabt, schrieb der “Guardian” nach seiner Wahl zum Vorsitzenden und fragte: “Kann er sich das bewahren?” Bislang präsentiert er sich als “Anti-Boris” und damit als kompletter Gegenentwurf zum jovialen und Sprüche klopfenden Premier.
So agiert der Oppositionsführer ruhig, höflich und zugleich erbarmungslos.
Doch trotz des guten Starts, der ihm sogar von zahlreichen Konservativen bescheinigt wird, erscheint er vielen Briten als zu langweilig, zu steif, zu farblos. Ihm fehle der Glamour und das Charisma, befürchten einige Labour-Fans, zudem eine klare Richtung, in die er steuert. Starmer äußere lieber Kritik anstatt eigene Visionen und Vorschläge anzubieten.
Vielleicht lässt er sich damit aber auch einfach Zeit. Die nämlich hat Keir Starmer. Die nächste Parlamentswahl findet erst im Jahr 2024 statt.