Missbrauchsfälle in der Kirche: Das System Ratzinger ist kollabiert
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/OOSWQCACGRBBPERTR7BNRV7IBE.jpg)
Papst Franziskus (rechts) und sein zurückgetretener Vorgänger Benedikt XVI. (Archivfoto).
© Quelle: imago images/epd
Es war ein kirchenpolitisches Beben, das sich am Donnerstagvormittag in München ereignete: Der ehemalige Papst Benedikt XVI. wird von einem Gutachter im Auftrag des Erzbistums München selbst bezichtigt, in Missbrauchsfälle verstrickt gewesen zu sein. Außerdem soll er die Unwahrheit gesagt haben. Was in Deutschland nun zu Kirchenaustritten führen wird und eine Debatte über die moralische Autorität der katholischen Kirche auslöst, erschüttert auch im Vatikan die Festen. Es markiert das plötzliche Ende des Systems Ratzinger. Ein System, das bis heute viel Einfluss in der katholischen Kirche hat.
Seit seiner Wahl im Jahr 2005 hatte der spätere Papst Joseph Ratzinger ein enges Netzwerk mächtiger Kardinäle aufgebaut und dafür gesorgt, dass es sich auch nach der Wahl von Papst Franziskus im Jahr 2013 immer wieder in das Pontifikat seines Nachfolgers einmischte. Das konnte er, weil Benedikt XVI. auch nach seinem Rücktritt in der konservativen Gruppe im Vatikan als die moralisch am höchsten stehende Autorität der katholischen Kirche angesehen wurde. Sein Spitzname im Vatikan lautete „il puro“, der Reine. Er galt als Gegenspieler des Popstarpapstes Franziskus. Doch damit ist nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens Schluss. Es könnte auch den Endpunkt eines bizarren Machtkampfes im Vatikan markieren: den zwischen dem alten Papst und dem neuen.
Das System Ratzinger funktionierte weiter – bis jetzt
Joseph Ratzinger hatte nach seinem Rücktritt im Jahr 2013 die Entscheidung getroffen, weiter Einfluss auf Entscheidungen seines Nachfolgers nehmen zu wollen. In der katholischen Kirche ist ein derartiges Verhalten eigentlich verpönt. Jeder Gemeindepfarrer ist gehalten, nach der Pensionierung die Pfarrgemeinde, in der er arbeitete zu verlassen, um zu verhindern, dass er die Arbeit des Nachfolgers untergrabe.
Doch Ratzinger blieb und sorgte dafür, dass das System Ratzinger auch nach seinem Rücktritt weiter funktionierte. Auf den Posten des zweitmächtigsten Mannes im Vatikan schickte er seinen engsten Vertrauten Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Auf den zentralen Posten des Präfekten des päpstlichen Hauses schob er kurz nach seinem Rücktritt seinen Sekretär Georg Gänswein.
Das System Ratzinger kennzeichnete im Vatikan vor allem eines: Alle Mitglieder galten als ungeheuer intelligente Wissenschaftler und moralische Autoritäten. Erste Risse bekam dieses Bild, als mit Benedikt XVI. ausgerechnet ein deutscher Papst im Jahr 2009 den Holocaustleugner Bischof Richard Williamson rehabilitierte. Spätestens seitdem Gerhard Ludwig Müller durch wirre Verschwörungstheorien aufgefallen war, hatte sich auch dessen Ruf als genialer Ratzinger-Freund stark relativiert. Als Papst Franziskus schließlich auch Papstsekretär Georg Gänswein im Jahr 2020 wegen einer Anzahl von Intrigen feuerte, schien der Ruf der moralischen Saubermänner schon angeschlagen. Aber noch intakt.
USA: unvorstellbares Ausmaß sexuellen Missbrauchs in katholischen Einrichtungen
Das System Ratzinger stand immer auch für das Beschweigen der weltweiten Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kirche. Bereits im Jahr 2002 hatte Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation in einer Rede in Murcia (Spanien) die Linie vorgegeben. Dort hatte er erklärt, dass die Verbreitung der Einzelheiten über Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester eine Attacke auf die Kirche sei, die von den Medien orchestriert werde. Diese Meinung hatte schon Joseph Ratzingers Vorgänger, der heilig gesprochene Papst Johannes Paul II. vertreten. In Gesprächen in der päpstlichen Maschine hatte Papst Johannes Paul II. die Berichte über sexuellen Missbrauch im kirchlichen Raum immer mit der gleichen Antwort abgetan. Die Kommunisten in Polen hätten Berichte über erfundenen sexuellen Missbrauch durch Priester immer wieder genutzt, um die Kirche anzugreifen.
Dass Joseph Ratzinger und Johannes Paul II. sich verstanden, steht außer Frage. Karol Wojtyla nannte nur einen Kardinal „meinen bewährten Freund“, und das war Joseph Ratzinger. Ein weiterer sehr mächtiger Mann vertrat die gleiche Linie. Der langjährige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano (im Amt zwischen 1991 und 2006) nannte im Jahr 2010 Berichte über sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute ein „reines Gequatsche“.
Als ein geradezu unvorstellbares Ausmaß sexuellen Missbrauchs in katholischen Einrichtungen in den USA bekannt wurde, reagierte Papst Benedikt noch immer mit Beschwichtigungen. Während einige US-Diözesen gezwungen waren, alles zu verkaufen, um die Ansprüche der Geschädigten finanziell zu erfüllen, spielte der Papst die Ereignisse herunter. Vor allem weigerte er sich einzusehen, dass das Problem die ganz katholische Kirche weltweit betraf. Er sicherte den US-Bischöfen während des Bekanntwerdens der zahlreichen Fälle sexuellen Missbrauchs die Unterstützung des Restes der Weltkirche zu, als sei der Rest der Weltkirche von dem Problem nicht betroffen.
Papst Franziskus wagte eine radikale Kehrtwendung
Das System Ratzinger ist konservativ, seine Autorität war stets die moralische Überlegenheit. Als Papst Franziskus eine radikale Kehrtwendung wagte und mit der Amoris-Laetitia-Schrift das Verbot aufhob, dass Geschiedene, die wieder heirateten, von den Sakramenten ausgeschlossen wurden, schlug Ratzingers Mannschaft zu.
Die engen Ratzinger-Freunde, der damalige Kölner Kardinal Joachim Meisner sowie Kardinal Walter Brandmüller, attackierten Papst Franziskus im Jahr 2016 in der „Dubia“-Schrift auf das Heftigste. Barmherzigkeit walten zu lassen gegenüber frommen Katholiken, die oft ohne jedes eigene Verschulden eine Scheidung erlebt hatten, schien ihnen moralisch nicht angebracht und nicht Gottes Willen zu entsprechen. Im Jahr 2019 schließlich verstieg sich Joseph Ratzinger in einer Schrift zu der Theorie, dass der Umgang der 1968er-Generation der eigentliche Grund für sexuellen Missbrauch sei.
Vor allem auch der Umgang mit Homosexualität zeigte, wie weit die Vorstellungen des Papstes über Sexualität und die Wirklichkeit auseinanderklafften. Im Jahr 2005 erklärt Papst Benedikt, dass Homosexuelle als Priester nicht geeignet seien. Er wies die Chefs der Priesterseminare an, darauf zu achten, keine Männer mit homosexuellen Tendenzen zu akzeptieren. Homosexuelle müssen mindestens drei Jahre lang keusch gelebt haben, um sich für das Priesteramt bewerben zu können. Spätestens seit dem Fall des Ratzinger-Mitarbeiters Krzysztof Charamsa aus Polen scheint das absurd. Der Mitarbeiter der Glaubensorganisation Charamsa outete sich im Jahr 2015 als schwul und erklärte, dass seiner Schätzung nach mindestens jeder Dritte im Vatikan schwul sei.
Für Papst Franziskus scheint der Weg frei zu sein
Für Papst Franziskus scheint nach dem Untergang des Systems Ratzinger der Weg jetzt frei. Die Unterstützer Ratzingers ziehen sich in diesen Tagen scharenweise zurück. Da das System auf einer moralischen grundsätzlichen Überlegenheit und Reinheit beruhte, scheint der Verdacht, dass Joseph Ratzinger gelogen hat, zu reichen, um seine Unterstützer zu zerstreuen.
Gerüchte im Vatikan besagen, dass Papst Franziskus schon vorab aus München Informationen bekommen habe, was sich da abzeichne. Denn kurz vor Bekanntwerden des Verdachts gegen Joseph Ratzinger feuerte Franziskus einen weiteren Vertrauten des Vorgängers. Der italienische Bischof Giacomo Morandi hatte als Mitarbeiter der Glaubenskongregation durchgesetzt, dass allen Priestern der Welt verboten werde, homosexuelle Paare zu segnen. Bischof Morandi muss jetzt die Kongregation verlassen und wird auf den Bischofssitz von Reggio Emilia verschoben. Papst Franziskus hatte mehrfach homosexuelle Paare gesegnet und erklärt: „Wer bin ich, einen homosexuellen Menschen zu verurteilen, der Gott sucht.“
In den kommenden Tagen will Franziskus nach „eingängigem Studium des Münchner Gutachtens“ Stellung nehmen.
Der Journalist und Buchautor Andreas Englisch kennt den Vatikan wie kaum ein zweiter Deutscher. Zuletzt sind die beiden Bücher „Der Pakt gegen den Papst“ und „Mein geheimes Rom“ von ihm im Bertelsmann-Verlag erschienen.