Nach 9/11 entstand ein völlig anderes New York

Zwölf Jahre Bürgermeister: Michael Bloomberg hat New York City in seiner Amtszeit entscheidend geprägt.

Zwölf Jahre Bürgermeister: Michael Bloomberg hat New York City in seiner Amtszeit entscheidend geprägt.

Das erste Mal, dass ich Michael Bloomberg begegnete, war im Herbst 2002. Bloomberg war seit knapp zehn Monaten als Bürgermeister von New York im Amt und er schien mit Ruhe, Übersicht und Zuversicht die Stadt aus einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte herauszuführen.

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Ich stand mit einer Meute von Reportern und Kamerateams im Wintergarten des World Financial Center, direkt gegenüber der Grube von Ground Zero, wo auch ein Jahr nach 9/11 noch Teams aufräumten und die Trümmer nach menschlichen Überresten durchsuchten. Unter der Glaskuppel des World Financial Center, die wundersam das Attentat überstanden hatte, herrschte hingegen Euphorie und Aufbruchstimmung.

Bloomberg hatte die Medien zusammengerufen, um offiziell die Kampagne zu New Yorks Olympiabewerbung für das Jahr 2012 zu eröffnen. Kaum eine der Journalistinnen und der Journalisten sah das damals, wie das heute bei Olympiabewerbungen üblich ist, kritisch. Im Gegenteil. Die Initiative war ein Zeichen für die Widerständigkeit der Stadt, man demonstrierte, dass man sich nicht unterkriegen lässt und dass die Stadt trotz des schweren Schlags wieder nach vorne schaut.

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Was man damals, während Bloomberg in seinem typisch lakonischen Tonfall die Kampagne für eröffnet erklärte, ausblendete, war, dass die Idee zur Olympiabewerbung schon lange vor 9/11 geboren worden war. Genau gesagt gab es diese Pläne seit 1994.

Dan Doctoroff und eine Gruppe einflussreicher und kapitalstarker Geschäftsleute

Damals hatte sich der Investmentbanker Dan Doctoroff mit einer Gruppe einflussreicher und kapitalstarker New Yorker Geschäftsleute zusammengesetzt und sich überlegt, dass eine solche Bewerbung ein hervorragender Stimulus zur Erschließung und Entwicklung großer Brachflächen in der Stadt wäre. Man könnte an der Westseite Manhattans über einem U-Bahn-Depot ein Stadium bauen, das dann später die New Yorker Football Teams aus den Vorstädten in die Stadt locken würde. Man könnte Industriebrachen in Brooklyn und Queens in Sportstätten und Athletenunterkünfte verwandeln und so alle diese Gegenden für Neuinvestitionen fruchtbar machen.

Nun, 2002, saß Doctoroff am Drücker. Nach seiner Wahl im November 2001, nur zwei Monate nach 9/11, hatte Bloomberg Doctoroff zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt und ihn mit der Stadtentwicklung betraut.

Rauchschwaden ziehen über die Skyline von New York City, nachdem zwei entführte Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers geflogen waren.

Rauchschwaden ziehen über die Skyline von New York City, nachdem zwei entführte Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers geflogen waren.

Als Michael Bloomberg sich Anfang des Jahres 2001 entschloss, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren, war er den meisten New Yorkern unbekannt. Er hatte zwar mit seinem Finanzinformationsdienst ein sagenhaftes Vermögen angehäuft, doch außerhalb der New Yorker Finanzelite war sein Name kaum ein Begriff.

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Im September 2001 hatte sich sein Name, nicht zuletzt wegen seines unkonventionellen Wahlkampfs, den Menschen der Stadt eingeprägt. Doch er blieb nach wie vor ein Außenseiter. New York wählt traditionell demokratisch und Bloomberg trat als Republikaner an. Die Tatsache, dass sein Vorgänger Rudy Giuliani als Republikaner gewählt worden war, war alleine einer gefühlten Krise geschuldet. Bei Giuliani war es die Krise der Gewaltkriminalität, gegen die der einstige Staatsanwalt mit Macht und letztlich erfolgreich vorzugehen versprach.

Bloomberg bekam seine Krise am 11. September 2001

Bloomberg bekam seine Krise am 11. September 2001 in den Schoß gelegt. 9/11 stellte die Prioritäten der New Yorker Politik auf den Kopf. Dinge wie bessere Schulen oder bezahlbarer Wohnraum rutschten auf der Liste der Sorgen der New Yorker Bürger nach unten. Wichtig war nun erst einmal, dass jemand den befürchteten Absturz des Standorts New York in die internationale Bedeutungslosigkeit verhindert.

Bloomberg schien dafür der richtige Mann. Er war ein erfolgreicher Unternehmer mit nachweislichen Managerqualitäten. Er war scheinbar sachlich und unideologisch. Er würde einfach anpacken und Probleme lösen.

Die Wahl von Michael Bloomberg unter dem traumatischen Eindruck von 9/11 war folgenreich. Bloomberg blieb zwölf Jahre im Amt und formte die Stadt wie kaum ein anderer Bürgermeister vor ihm. So bescherte 9/11 den New Yorker Bürgern eine Stadt, die 20 Jahre später nicht wiederzuerkennen ist.

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Die New Yorker bekamen mit Bloomberg das, was sie gewollt hatten. Bloomberg führte die Stadt wie ein Unternehmen. Oberstes Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen hatte, war die Bottom Line.

Die Stadt wurde, wie der Soziologe Julian Brash in seinem Buch über „Bloomberg‘s New York“ beschrieb, als Produkt umgedacht. Zielgruppe waren internationale Firmen und deren Angestellte, sowie die Tourismusbranche. Sie sollten Geld in die örtliche Wirtschaft und den Stadtsäckel pumpen und die Stadt auf dem Weltmarkt mit anderen Städten im Wettbewerb halten.

Dazu wurde Nachbarschaft um Nachbarschaft aufgewertet und „gebranded“, meist mithilfe privater Investitionen. Bloomberg ließ 40 Prozent der Fläche von New York „re-zonen“, das heißt, traditionelle Nutzungsbeschränkungen und Milieuschutz aufheben, um sie für Investoren attraktiv zu machen. Ein Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozess sondergleichen kam in Gang. Auf die wachsende Kritik an dieser Politik antwortete Bloomberg einmal kaltschnäuzig, New York sei eben ein Luxusprodukt. Wer es sich nicht leisten könne, müsse eben wegziehen.

Nach Büroschluss war die Umgebung wie ausgestorben

Natürlich war diese Vision der Luxusstadt lange vor Covid entstanden. Doctoroffs Pläne für die Entwicklung der Westside von Manhattan auf dem Rücken einer Olympiabewerbung standen stellvertretend für die Vision dieser Stadt, welche die „transnationale Kapitalklasse“, wie Julian Brash sie nannte, schon lange gehegt hatte. Mit dem Schock von 9/11 waren sie nun plötzlich umsetzbar.

Bestes Beispiel für diese Vision ist das Viertel rund um Ground Zero selbst. Das ursprüngliche World Trade Center selbst hatte bereits eine Umwidmung eines organisch gewachsenen, funktionierenden Stadtviertels bedeutet. Die Türme waren hermetisch aus dem Stadtgefüge herausgelöst. Nach Büroschluss war die Umgebung tot.

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Jegliche Hoffnung, diesen Prozess nach 9/11 umzukehren, wurde jedoch im Ansatz erstickt. Das Viertel wurde nicht den Bürgern zurückgegeben. Im Gegenteil. Es entstand ein Campus mit einem abstrusen Überangebot an Büroraum. Die Gegend wurde zur Spekulationsspielwiese für Bauinvestoren, gefördert von Milliardenzuschüssen von Stadt und Staat für den Wiederaufbau. Die Gedenkstätte und das Museum sind derweil Tummelpätze für Touristinnen und Touristen. New Yorkerinnen und New Yorker verirren sich selten dorthin.

ARCHIV - 11.09.2001, USA, New York: Feuer und Rauchschwaden sind am Nordturm des World Trade Centers zu sehen, nachdem Terroristen zwei entführte Flugzeuge in das World Trade Center geflogen und die Zwillingstürme zum Einsturz gebracht hatten.

ARCHIV - 11.09.2001, USA, New York: Feuer und Rauchschwaden sind am Nordturm des World Trade Centers zu sehen, nachdem Terroristen zwei entführte Flugzeuge in das World Trade Center geflogen und die Zwillingstürme zum Einsturz gebracht hatten.

Der angrenzende Finanzdistrikt, aus dem schon lange vor 9/11 die Finanzfirmen geflohen waren, weil die physische Nähe zur Börse im Internetzeitalter hinfällig war, leerte sich mit 9/11 über Nacht. Auch hier funktionierte die Krise als Beschleuniger. Danach stürzten sich wiederum die Bauentwicklerinnen und -entwickler auf die hübschen alten Wolkenkratzer, um sie in Luxusapartments zu verwandeln. Heute ist das, was noch immer „Wall Street“ heißt, ein steriles High-End-Viertel, durchsetzt von „Boutiquehotels“ für wohlhabende Geschäftsreisende und Touristinnen und Touristen.

Viele New Yorkerinnen und New Yorker durchschauten diese Instrumentalisierung von 9/11 rasch. Und nicht nur die, sondern auch die Instrumentalisierung von 9/11 in der nationalen Politik für eine Bandbreite von politischen Zielen und Ideen von einer dramatischen Militarisierung des Landes bis hin zu einer restriktiven Einwanderungspolitik und einem grotesken Überwachungsapparat.

Dem jährlichen Ritual des 9/11-Gedenkens konnten New Yorkerinnen und New Yorker deshalb schon rasch nichts mehr abgewinnen. Ihre traumatischen Erlebnisse und Erinnerungen behielten sie lieber für sich selbst und tauschten sie im Privaten aus, als sich an den kitschigen jährlichen Gedenkritualen rund um Ground Zero zu beteiligen.

Bloomberg wurde zweimal wiedergewählt

Bloomberg wurde freilich zähneknirschend zweimal wiedergewählt, es war jeweils kein kompetenter Gegenkandidat in Sicht. Zumal New Yorkerinnen und New Yorker nach 9/11 eine große Sehnsucht nach Stabilität hatten.

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Nachdem es Bloomberg nicht schaffte, sich durch eine Verfassungsänderung ein viertes Mal auf den Wahlzettel setzen zu lassen, gewann im Jahr 2014 Bill de Blasio die Bürgermeisterwahl. De Blasio trat dezidiert als Anti-Bloomberg an. Er versprach, etwas gegen die extreme soziale Ungleichheit zu tun, die durch Bloomberg in der Stadt entstanden war. Er wollte in sozialen Wohnungsbau investieren, Polizeigewalt eindämmen und das absurd gewordene Wohnsitzlosenproblem lösen.

New York war zunächst von ihm begeistert. Die Post-9/11-Ära war vorbei, man wollte keinen Technokraten mehr an der Spitze, der alleine darauf bedacht ist, Budgets auszugleichen und es Firmen sowie Touristinnen und Touristen recht zu machen. Man wollte jemanden, der für die Bürgerinnen und Bürger da ist.

Nachfolger de Blasio konnte nichts bewegen – das zeigt vor allem die Corona-Krise

Doch de Blasio stellte sich als schwach heraus. Er wird, wenn er Ende des Jahres sein Amt abgibt, als einer der ineffektivsten Bürgermeister in die Stadtgeschichte eingehen. De Blasio schaffte es nicht, sich gegen die Strukturen und mächtigen Interessen durchzusetzen, die sich in der Bloomberg-Ära etabliert hatten.

Wie wenig de Blasio hatte bewegen können wurde drastisch deutlich, als New York zu Beginn des Jahres 2020 erneut zum Epizentrum einer globalen Krise wurde.

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Covid spülte die extreme soziale Ungleichheit in der Stadt an die Oberfläche wie kein Ereignis zuvor. Im Frühjahr 2020, als Covid durch die Stadt raste wie ein Lauffeuer durch einen trockenen Nadelwald, wurden die ärmeren, zumeist ethnisch stark gemischten Viertel zu Todeszonen. Dicht gedrängte Wohnverhältnisse, medizinische Unterversorgung und die Notwendigkeit, trotz allem als Supermarktkassierer, Krankenschwester oder Zugführer zu arbeiten, ließen hier die Epidemie durchschlagen wie nirgendwo sonst.

Und das Ausmaß der Obdachlosenkrise ließ sich nicht länger aus dem Blickfeld der besser situierten New Yorkerinnen und New Yorker verbannen. Viele der 70.000 Wohnsitzlosen flohen aus den Unterkünften und tauchten im leer gefegten Zentrum Manhattans auf. Leere Touristenhotels am Times Square wurden in Unterkünfte und Versorgungszentren umfunktioniert.

Olympiabewerbung scheiterte

So markiert Covid wohl endgültig das Ende der Post-9/11-Ära. Als eindringlichstes Symbol dieses Zeitenwandels stehen zweifellos die Hudson Yards, jene neue Stadt in der Stadt, die in den vergangenen Jahren an genau der Stelle entstanden sind, an der Dan Doctoroff sein Olympiastadion haben wollte.

Die Olympiabewerbung fiel durch, doch die Entwicklung des Areals im äußersten Westen Manhattans schritt voran. Im Jahr 2005 hatte Bloomberg die Baugenehmigung, 2008 hatte er die Investorinnen und Investoren für das 25-Milliarden-Dollar-Projekt zusammen. Noch während seiner Regierungszeit bewilligte er den Bau einer eigenen U-Bahn-Station für das Carré, obwohl das U-Bahn-Netz an anderer Stelle dringend sanierungsbedürftig war.

Nun ist sie fertig, die goldene Stadt voller Luxuswohntürme und High-End-Shopping-Gelegenheiten, doch keine und keiner braucht sie. Die Wohnungen verkaufen sich nicht, in die Boutiquen verirrt sich kaum jemand. Manch einer prophezeit den Hudson Yards, dass sie eine Geisterstadt werden, ein letztes trauriges Zeugnis einer Epoche, in der sich New York auf dem Rücken einer Tragödie in einen Rausch der Dekadenz gestürzt hat.

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