Presse zur Scholz-Kanzlerkandidatur: “Wenn nicht er, dann keiner”
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SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, SPD-Chefin Saskia Esken und Fraktionschef Rolf Mützenich (v.l.).
© Quelle: imago images/photothek
Berlin. Es kann ihnen nicht leicht gefallen sein – und doch stehen sie da wie das Trio Infernal. Die SPD-Parteichefs nehmen ihren einst ärgsten Widersacher in die Mitte und sagen im Brustton der Überzeugung: Dieser Mann soll unser Kanzler werden. Finanzminister Olaf Scholz führt die Sozialdemokraten in die Bundestagswahl im Herbst 2021.
Für viele Kommentatoren der Presse ist die Wahl tatsächlich eine Chance für die SPD, andere hegen aber auch Zweifel – vor allem in Bezug auf die Richtung, welche die Partei nun einzuschlagen gedenkt. Ein Überblick über die Pressestimmen.
“Die SPD – bis vor Kurzem etwas zerrupft zwischen Fraktion, Parteispitze und Kabinettsmitgliedern – hat mit einem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und der erfreulich transparenten Machtoption Rot-Rot-Grün einen mutigen Akkord zur Befriedung der Gesamtpartei hingelegt”, kommentiert die “Welt”. “Alle fühlen sich mitgenommen. Und: Der Wähler wird früh ernst genommen. Vorbei das Gedruckse um eine mögliche Machtoption jenseits der Mitte. Die SPD rückt nach links und korrigiert sich im Flug mit dem Kanzlerkandidaten zurück in die Mitte. Esken und ihr Kompagnon wählen damit eine Strategie der Union, die mit einer jovialen Unschärfe einen möglichst breiten Ausschnitt der Gesellschaft ansprechen will. (...) Dass Frau Esken mehr kann, als die rote Fahne zu wedeln, hat sie deutlich gemacht. Wie viel mehr, wird sie ihre Partei bald wissen lassen.”
“Zeit Online” kommentiert: “Der Niedergang der SPD ist historisch bedingt, aber nicht unumkehrbar. Die Partei hat sich bereits verändert, und die Welt um sie herum noch viel mehr. Angesichts der Neuaufstellung nach der Ära Merkel wäre die Nominierung eines Linkskandidaten der falsche Schluss gewesen. Das bedeutet nicht, dass Olaf Scholz die SPD auch tatsächlich aus der Krise führen wird. Aber im Moment gilt: Wenn nicht er, dann keiner.”
Die “Neue Zürcher Zeitung” schreibt, Scholz müsse das Verhältnis zur Linkspartei klären müssen: “Auch das ‘progressive’ Regierungsbündnis, von dem die Parteiführung träumt, wirft mehr als nur taktische Fragen auf. Die Linkspartei, die neben den Grünen zu einer solchen Koalition gehören würde, hat in ihren Reihen zwar einige moderate Köpfe. Aber sie duldet auch DDR-Verklärer und Linksextremisten. Ihre außenpolitischen Ziele sind mitunter aberwitzig. Dem Kandidaten Scholz ist hierzu am Montag auch auf mehrfaches Nachfragen nicht mehr eingefallen als ein Zitat des früheren SPD-Chefs Sigmar Gabriel: ‘Es hängt an den anderen.’ Das ist zu wenig. Wenn dieser Realo bei Realowählern eine Chance haben will, wird er sein Verhältnis zur Linkspartei klären müssen.”
“Für Olaf Scholz ist diese Kandidatur eine persönliche Genugtuung”, schreibt die “Süddeutsche Zeitung”. “Die Niederlage bei der Wahl der SPD-Vorsitzenden war schmerzhaft, manche Häme gegen ihn diffamierend. Die Führungsgremien der Sozialdemokraten haben gezeigt, dass sie über ihren Schatten springen können, vorneweg, sehr respektabel, die beiden Parteichefs. Sie schicken den Mann ins Rennen, der ausweislich seiner Bekanntheit und seiner Popularitätswerte allein in der Lage ist, eine Chance zu nutzen, die die SPD nicht hat: die Chance aufs Kanzleramt. Für Scholz hat es sich gelohnt, dass er in der Niederlage Größe bewiesen hat. Er hat nicht gegen die Vorsitzenden gearbeitet, sondern mit ihnen. Er hat gezeigt, dass er durchhalten kann.”
Wohin Scholz die SPD ziehen soll, fragt sich das “Handelsblatt”: “Kühnert, Walter-Borjans und Esken blinken links. (…) Die SPD-Wählerschaft darf sich also auf einen Vizekanzler einstellen, der einen verbalen Klimmzug nach dem anderen hinlegen muss, um die drei an der Parteispitze zu befrieden, und sich dabei selbst noch ernst nehmen kann. Vielleicht gelingt der Spagat. Sollte Scholz die Linke mit seinem realpolitischen Kurs versöhnen, wäre das schon ein Erfolg an sich. Das Leiden der SPD an sich selbst und damit die eigene Selbstverzwergung hätten ein Ende.”
Das “Westfalen-Blatt” kommentiert: “Ist die SPD-Führungsriege vernünftiger als die Parteibasis? Man muss es fast annehmen. Die Entscheidung der Führungsgremien für Olaf Scholz als Kanzlerkandidat jedenfalls beweist weitaus mehr Realitätssinn als die der Mitglieder, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu ihrem Vorsitzendenduo zu wählen. Doch eine vernünftige Kandidatenwahl macht noch lange keinen Kanzler. Gleichwohl: Mit ihrer Entscheidung hat sich die SPD gegenüber der CDU/CSU einen Startvorteil erarbeitet. Der nutzt allein nichts, doch Klarheit schadet gewiss auch nicht. Erst recht, da Olaf Scholz das Beste ist, was die SPD aktuell zu bieten hat. Die Parteispitze hat sich in bemerkenswerter Einigkeit zu einem Akt der Vernunft durchgerungen. Ob die SPD – anders als zuletzt bei Peer Steinbrück und Martin Schulz – nun dieser Entscheidung folgt und den Kandidaten geschlossen unterstützt, muss sich allerdings erst noch erweisen.”
“Die Ouvertüre lief schon mal ganz gut”, schreibt die “Rhein-Neckar-Zeitung”. “Wenn der politischen Konkurrenz kein besseres Argument gegen Olaf Scholz einfällt als der Zeitpunkt der Bekanntgabe, dann spricht das erst einmal für den Kandidaten. Der Hanseat ist ein ernst zu nehmender Herausforderer. Daran bestand auch nie ein Zweifel. Zweifelhaft ist nur, dass ihn die beiden Parteichefs, die sich bisher als seine Gegner gerierten, plötzlich für ihn aussprechen. Natürlich aus pragmatischen Gründen. Es gibt niemanden sonst, der auch nur den Hauch einer Chance hätte, die Partei halbwegs erfolgreich in den Bundestagswahlkampf 2021 zu führen. Aber Politik lebt eben auch von innerer Überzeugung. Der Wähler muss fühlen, dass eine Partei für etwas brennt. Bei Esken und Walter-Borjans brennt nichts für Scholz, da glimmt eine Lunte, die vermutlich schon bald wieder ausgetreten wird – zum Beispiel im Zuge des ersten Streits um Rot-Rot-Grün oder ein Offenhalten von Koalitionsoptionen.”
Die “Heilbronner Stimme” kommentiert: “Ein weiteres Problem des designierten Kanzlerkandidaten ist seine Partei, die ihn bekanntlich nicht als Chef haben wollte. Unter den neuen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist die SPD deutlich nach links gerückt, liebäugelt mit einem Bündnis mit den Grünen und der Linkspartei. Scholz steht vor der gewaltigen Aufgabe, die streitbare Partei zu einen und Machtoptionen zu erschließen. Auch wenn bis zur Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres viel passieren kann: Angesichts aktueller Umfragewerte der SPD von 15 Prozent stehen die Chancen für einen Kanzler Scholz denkbar schlecht.”
Als “letzten Versuch” bezeichnet die “Mittelbayerische Zeitung” die Nominierung: “Entweder, die SPD findet wieder zum Wähler, auch durch ihr Personal. Oder sie wird in Zukunft nur noch die zweite oder dritte Geige spielen. Der Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist der letzte Versuch. Die Bürger werden wählen, am Ende gibt es für die SPD nur zwei Richtungen: Volkspartei oder Juniorpartner auf ewig. Mit der Kür von Olaf Scholz hat die SPD zumindest den Willen bewiesen, wieder um die bürgerliche Mitte zu ringen und damit auch gewinnen zu wollen. Mit Anbiederungen an die Linke und die Grünen eher nicht.”
Der “Kölner Stadt-Anzeiger” blickt in die Zukunft: “Scholz’ nächstes Problem sind die Grünen. Stehen die für ein – mutmaßlich wackliges – rot-rot-grünes Regierungsbündnis zur Verfügung, wenn auf der anderen Seite die Union lockt? In Hessen und Baden-Württemberg hat sich gezeigt, wie geräuschlos Schwarze und Grüne miteinander regieren können. Die Versuchung ist groß, das Modell auf den Bund zu übertragen. Die allergrößte Herausforderung für Olaf Scholz allerdings ist die aktuelle Schwäche seiner SPD. Was nützen ihm potenzielle Bündnispartner, wenn die eigene Stärke fehlt? Sein erstes Ziel muss es deshalb sein, die schlechten Umfragewerte der SPD zu steigern. Es muss schon einiges klappen im Wahlkampf der SPD, damit das Unmögliche möglich wird. Immerhin die Nominierung hat nun geklappt. Anders als bei Martin Schulz 2017, Peer Steinbrück 2013 und Frank-Walter Steinmeier 2009 ziehen die Genossen in diesem Jahr an einem Strang. Darauf kann Scholz aufbauen.”
“Nun ist es also raus”, schreibt der “Weser-Kurier”. “Die Partei kann sich jetzt formieren und hinter Olaf Scholz versammeln, auch wenn das einigen schwerfallen dürfte. Dezent aber hat Scholz in einigen Interviews schon durchblicken lassen, dass auch in ihm noch linke Wurzeln stecken. Die frühe Entscheidung schafft der SPD zudem einen Vorteil gegenüber der noch mitten in der Entscheidungsfindung begriffenen Union. Dort ist derzeit nur eines klar: Angela Merkel tritt nicht wieder an. Ob Scholz’ Kontrahent aber der neue CDU-Chef wird oder ob dieser nicht eher aus Bayern kommt und Markus Söder heißt, darüber wollen die Schwesterparteien wohl erst Anfang 2021 entscheiden. Viel Zeit also für Scholz, um schon in den Angriffsmodus zu schalten und dabei seinen Amtsbonus als Vizekanzler und Finanzminister zu nutzen. Die SPD hat gerade aus der Not eine Tugend gemacht.”
Die “Badische Zeitung” kommentiert: “Parteichefin Saskia Esken hatte noch am Sonntag kleinmütig davon gesprochen, dass man notfalls auch unter einem Grünen-Kanzler in die nächste Bundesregierung gehe. Scholz hingegen erklärte, dass er auf Sieg, nicht auf Platz spielt. Weil Olaf Scholz bei vielen Bürgern beliebt ist, wirkte das nicht mal vermessen – auch wenn die Genossen seit Langem im 15-Prozent-Umfrage-Keller hocken.”
“Die Wahl der SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans im Vorjahr war ein Experiment mit noch immer offenem Ausgang. Beim damals gescheiterten Olaf Scholz wäre vom ersten Tag an klar gewesen, woran man bei ihm ist”, kommentiert die “Volksstimme” in Magdeburg. “Doch ihn wollten die Genossen nicht. Bei der Kanzlerkandidatur, deren Sinnhaftigkeit für die SPD Walter-Borjans sogar mal bezweifelt hatte, führt nun kein Weg mehr an ihm vorbei. Die SPD hat derzeit niemanden von ähnlicher Kompetenz wie den Finanzminister. Seine Parteivorsitzenden haben ihm aber den Rucksack eines rot-rot-grünen Bündnisses mitgegeben. Der Kandidat wird daran schwer zu schleppen haben. Kaum vorstellbar, dass Scholz als Agenda-2010-Protagonist sich plötzlich mit den Linken in den Armen liegt.”
Die “Neue Osnabrücker Zeitung” sieht in Scholz den “richtigen Mann für die SPD”: “Scholz kann es gelingen, den SPD-Karren aus dem 15-Prozent-Graben zu ziehen. Und er könnte den verlorenen Wählerschichten – von Facharbeitern bis zu Polizisten – erklären, warum sie die Sozialdemokratie in Zukunft brauchen. In Hamburg hat er seine Partei schon einmal neu aufgerichtet. Scholz ist der richtige Mann für die SPD. Union und Grüne sollten sich hüten, den gebürtigen Osnabrücker schon abzuschreiben. Im September 2021 wird ein Nachfolger für Angela Merkel gesucht. Im potenziellen Bewerberfeld ist der Vizekanzler der Nochkanzlerin in Sachen Coolness, Kompetenz und Erfahrung mit Abstand am ähnlichsten.”
Der “Wiesbadener Kurier” fragt sich, warum die SPD überhaupt einen Kandidaten aufstellt: “Die lasche Form der Bekanntgabe, die uninspirierte Stellungnahme von Olaf Scholz, die kaum verhohlene Freude der Konkurrenz – alles deutet daraufhin, dass niemand daran glaubt, dass aus dem Kandidaten jemals ein Kanzler wird. Warum braucht eine Partei, die nach aktuellen Umfragen zwischen 14 und 16 Prozent der Stimmen gewinnen würde, überhaupt einen Kandidaten für das Kanzleramt? Selbst in der Kombination mit den Grünen und der Linken müsste die alte Dame SPD den forschen jungen Grünen den Vortritt lassen.”
RND/das/dpa