Verfassungsgericht: Kein generelles “Recht auf Vergessenwerden”

Zeichen der Macht, aber auch der Mäßigung in Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht setzt sich schon durch seine 1969 fertiggestellten fünf transparenten Baukörper mit Flachdach von den Justizpalästen früherer Jahrhunderte ab.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Karlsruhe. Medien dürfen grundsätzlich auch über Jugendverfehlungen von Prominenten berichten. Auch nach Jahrzehnten gibt es kein schematisches “Recht auf Vergessenwerden”. Das entschied jetzt das Bundesverfassungsgericht im Fall des Unternehmers Ulrich Marseille. Das “Manager-Magazin” hatte 2011 ein ausführliches und wenig vorteilhaftes Porträt Marseilles gebracht. Dieser war damals Mehrheitsaktionär und Vorstandsvorsitzender der bundesweit tätigen Marseille-Kliniken AG.

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In dem Porträt wurde erwähnt, dass Marseille 1984 im juristischen Staatsexamen bei einem Täuschungsversuch ertappt wurde und deshalb das Studium ohne Abschluss beenden musste. Er hatte im “Hamburger Abendblatt” per Chiffre-Anzeige einen Ghostwriter gesucht, der ihm “bei guter Bezahlung” die Examensarbeit schreibt. Das sah ein Mitarbeiter des Prüfungsamts und meldete sich, so flog der Schwindel auf. Auf Klage von Marseille untersagte das Oberlandesgericht Hamburg dem “Manager-Magazin”, den lange zurückliegenden Vorfall weiter zu erwähnen. Das “Ausgraben” der alten Geschichte setze den Unternehmer der Missbilligung und Häme aus. Marseille werde wegen eines einmaligen Fehlverhaltens dauerhaft an den Pranger gestellt und als Mensch porträtiert, der bereit sei, unredliche und betrügerische Mittel einzusetzen.

“Manager-Magazin” legte Verfassungsbeschwerde ein

Gegen dieses Berichterstattungsverbot erhob das “Manager-Magazin” Verfassungsbeschwerde. Mit Erfolg: Eine mit drei Richtern besetzte Kammer des Bundesverfassungsgerichts gab der Beschwerde nun statt. Der Unternehmer müsse im Rahmen eines kritischen Porträts auch die Erwähnung seines lange zurückliegenden Täuschungsversuchs dulden. Die Möglichkeit der Presse, über unliebsame Details aus der Vergangenheit zu berichten, erlösche nicht schematisch durch bloßen Zeitablauf.

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Es gebe zwar eine “Chance auf Vergessenwerden”, so die Verfassungsrichter, bei einer Abwägung überwiege im Fall Marseilles aber das Recht der Presse, wahrheitsgemäß zu berichten. Schließlich sei Marseille stets öffentlich tätig gewesen und habe auch die Öffentlichkeit gesucht. So habe das Unternehmen Marseille-Kliniken AG seinen Namen getragen (heute: MK-Kliniken AG). Die Anleger hatten ein berechtigtes Interesse an der “Verlässlichkeit” des Vorstandsvorsitzenden.

Marseille stellte sich selbst in die Öffentlichkeit

2003 habe sich Marseille als Spitzenkandidat der rechtspopulistischen Schill-Partei in Sachsen-Anhalt auch politisch exponiert. Und schließlich habe Marseille in seinem öffentlichen Lebenslauf selbst auf sein Jurastudium hingewiesen. Die Erwähnung des Täuschungsversuchs von 1984 sei auch noch aktuell gewesen, so die Richter, da Marseille in der Zeit vor dem “Manager-Magazin”-Bericht zweimal strafrechtlich verurteilt wurde, unter anderem wegen Bestechung einer Krankenkassengutachterin. In zwei Grundsatzentscheidungen hatten sowohl der Europäische Gerichtshof 2014 als auch das Bundesverfassungsgericht 2019 ein grundsätzliches “Recht auf Vergessenwerden” anerkannt, das aber immer mit der Pressefreiheit abgewogen werden müsse.

Az.: 1 BvR 1240/14

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