Wann impft endlich auch Europa?

Eine Frau hält eine Ampulle des Pfizer-Biontech-Covid-19-Impfstoffs in der Hand.

Eine Frau hält eine Ampulle des Pfizer-Biontech-Covid-19-Impfstoffs in der Hand.

Berlin. Da ist es wieder, dieses Gefühl, Europa sei irgendwie nicht auf der Höhe der Zeit. Die Digitalisierung verschlafen, den Klimaschutz sowieso. „Old Europe“ – ein Kontinent, auf dem die Mühlen langsamer mahlen, wo Chancen verpasst werden. Und nun, so scheint es, wird auch noch die Gesundheit der eigenen Bevölkerung aufs Spiel gesetzt.

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Da sitzt mitten in Europa im kleinen Mainz ein innovatives Unternehmen namens Biontech und schickt sich an, die Menschheit aus der Geiselhaft des Coronavirus zu befreien. Andere Staaten greifen beherzt zu, lassen das Biontech-Serum rasch zu und fangen mit Impfungen an. Und in Europa? Da wird beraten – obwohl allein in Deutschland tagtäglich Hunderte Menschen an oder mit Corona sterben.

Es geht um Sicherheit

So einfach, so richtig? Wohl kaum. Schließlich geht es bei der Zulassung eines Impfstoffes für Millionen Menschen nicht nur um einen bürokratischen Akt. Es muss verhindert werden, dass Menschen durch ein Vakzin Schaden nehmen – zuletzt passiert bei der Impfung gegen die Schweinegrippe 2008/2009. Hunderte Menschen leiden seither an einer unheilbaren Schlafkrankheit.

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Dennoch steht eine Frage im Raum: Warum ist der Impfstoff bereits in Großbritannien zugelassen, in den USA und sogar in Kanada, wo – anders als bei Briten und US-Amerikanern – keine politischen Motive des Regierungschefs zu vermuten sind? Warum will die Europäische Arzneimittelbehörde (Ema) erst am 29. Dezember entscheiden?

Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) in Amsterdam.

Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) in Amsterdam.

„Ich frage mich, ob wir wirklich so lange brauchen, um in Europa eine Zulassung des Impfstoffs zu erreichen“, sagt etwa der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. „Europa sollte auch versuchen, schon vorher eine Notfallzulassung zu schaffen. Dann könnten wir noch vor Weihnachten mit mobilen Teams in die Pflegeheime gehen und die Bewohner impfen.“

„Alle nötigen Daten liegen vor“

Auch Gesundheitsminister Jens Spahn scheint nervös zu werden. Gerade noch bekräftigte er: „Es geht nicht darum, irgendwie Erster zu sein, es geht darum, dass wir sichere und wirksame Impfstoffe haben.“ Doch am Sonntag in der Schalte von Kanzlerin Angela Merkel mit den Länderchefs sagte er Teilnehmern zufolge: „Jeder Tag, den wir früher beginnen können, mindert Leid.“ Alle nötigen Daten lägen vor. Soll heißen: Die Ema soll sich beeilen. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Aussagen aus der internen Runde öffentlich bekannt wurden.

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Die Gesetzeslage in Europa ist klar: Sobald ein Arzneimittel in mehr als einem EU-Land eingesetzt werden soll, ist für die Zulassung die Ema zuständig. Eine extrem vereinfachte Notfallzulassung für den gesamten EU-Raum ist nicht vorgesehen, wohl aber eine Beschleunigung, die auch im Fall von Biontech zur Anwendung kommt: Beim sogenannten Rolling-Review-Verfahren werden von den Unternehmen fortlaufend die Daten der klinischen Studien an die Ema übermittelt und dort sofort von Experten bewertet – und nicht erst dann, wenn alle Studien abgeschlossen sind.

Eine weitere Möglichkeit zu einer schnelleren Zulassung: Selbst wenn Daten fehlen, kann die Ema eine bedingte Zulassung aussprechen. Damit wird das Pharmaunternehmen verpflichtet, fehlende Angaben nachzuliefern – etwa Daten, wie lange die Immunisierung tatsächlich anhält. Das konnte in der kurzen Zeit der Entwicklung bisher nicht sicher ermittelt werden. Deshalb geht es bei den Corona-Impfstoffen generell um eine bedingte Zulassung, die nur ein Jahr gilt.

Recht auf das eigene Tempo

Nach EU-Recht haben die Mitgliedsstaaten allerdings die Möglichkeit, national eine deutlich beschleunigte Notfallzulassung zu ermöglichen. „Es geht bei der Möglichkeit für nationale Ausnahmen eigentlich um den Fall, dass ein gravierender Ausbruch in nur einem Mitgliedsstaat stattfindet und man deshalb ein geregeltes EU-Verfahren nicht im gleichen Maße vorantreiben kann“, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der EVP-Christdemokraten im Europäischen Parlament, Peter Liese, zur Erklärung.

Großbritannien hat dieses Recht genutzt, der Brexit hat damit anders als von der Regierung behauptet nichts zu tun. Denn das Königreich unterliegt noch bis Ende des Jahres dem EU-Recht. Der Unterschied zu Deutschland: London hatte bereits vor der Corona-Pandemie eine Notfallzulassung in seinem nationalen Recht verankert.

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Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Berlin aber nachgezogen. Im umstrittenen Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, das Mitte November verabschiedet wurde, findet sich eine Passage, die dem Gesundheitsministerium weitreichende Möglichkeiten bei der Arzneimittelversorgung einräumt.

Darin heißt es, im Fall einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit könne das Ministerium „zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung Arzneimittel (…) selbst oder durch beauftragte Stellen herstellen, beschaffen, lagern und in Verkehr bringen“.

Pharmaexperten lesen das als eine Art Generalklausel, mit der das Ministerium letztlich viele Regelungen des Arzneimittelrechts aushebeln könnte. Spahn will davon keinen Gebrauch machen. Er macht zwar Druck, will sich aber an die Verabredung der EU-Staaten halten, die Corona-Impfstoffe gemeinschaftlich zuzulassen.

Notfallzulassung nicht geeignet

Das hält auch der CDU-Europaabgeordnete Liese für den einzig gangbaren Weg. „Es geht ja darum, gesunden Patienten einen Impfstoff zu verabreichen“, sagt er. Eine Notfallzulassung sei eigentlich für Fälle gedacht, in denen ein noch nicht zugelassenes Medikament einem lebensbedrohlich erkrankten Patienten helfen könnte. In diesen Fällen gebe es keine Haftung für den Hersteller und zudem verringerte Anforderungen an die Daten, die man vorlegen müsse.

Biontech selbst hat bestätigt, dass die Anforderungen der Ema deutlich höher sind als etwa die der britischen Zulassungsbehörde. „Mehr Daten, mehr Sicherheit“, fasst es Liese zusammen, der selbst Mediziner ist. Und er fügt hinzu: „Obwohl ich großes Vertrauen in Biontech habe, ist es doch menschlich, dass man noch genauer hinschaut, wenn man selbst haftet und nicht der Staat.“

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Liese verweist zudem auf die ersten Erfahrungen aus Großbritannien: Dort sah sich die Arzneimittelaufsicht nach zwei Fällen von allergischen Reaktionen genötigt, von Impfungen bei Menschen mit erheblichen Allergien abzuraten. Der Abgeordnete ist überzeugt, dass die Ema nach gründlicher Prüfung präzisere Auflagen machen könne, um so etwas schon im Vorfeld zu verhindern.

Sicherheit vor Schnelligkeit

Sicherheit geht vor, dafür plädieren auch Politiker in Deutschland. „Die Zulassung muss dem Prinzip der Gründlichkeit folgen“, fordert Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet (CDU). „Die zuständigen Behörden müssen sicher sein, dass der Impfstoff sicher ist“, sagte er dem RND. Man müsse sich nun die nötige Zeit nehmen, bis die europäische Entscheidung nach sachlichen Kriterien gefällt werde. „Ich hoffe, dass dies noch in diesem Jahr geschieht. Es wäre ein Lichtblick, auch wenn wir uns nicht der Illusion hingeben dürfen, dass der Impfstoff allein die Pandemie schnell beenden kann.“

„Misstrauen und Skepsis“

Auch Bundespolitiker warnen. „Es ist wichtig, dass die Zulassung nach einer sorgfältigen und fachgerechten Prüfung erfolgt. Alles andere weckt Misstrauen und Skepsis“, meint etwa die Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink und erinnert an die nicht allzu hohe Bereitschaft der Bevölkerung in Deutschland, sich ein in Rekordzeit entwickeltes Serum spritzen zu lassen: Umfragen zufolge wollen sich nur 53 Prozent gegen Corona impfen lassen – für das Erreichen der Herdenimmunität ist allerdings eine Rate von 65 bis 70 Prozent nötig.

Die Hoffnung: Eine sorgfältige Ema-Zulassung hat höhere Glaubwürdigkeit als die Entscheidung einer einzelnen nationalen Behörde. Klein-Schmeink verweist aber auch darauf, dass Deutschland derzeit ohnehin nicht bereit für eine Massenimpfung sei.

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So sind zwar überall in Deutschland Impfzentren aufgebaut, ob die Logistik funktioniert, ist aber bisher unsicher. Zudem fehlen Details in den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) über die Reihenfolge, in der geimpft werden soll. Auch an der Aufklärung müsse noch gearbeitet werden. „Viele pflegebedürftige Menschen haben zum Beispiel eine rechtliche Betreuung; diese Betreuungspersonen müssen in die Aufklärung einbezogen werden. Das alles wäre über Weihnachten sowieso nicht zu stemmen“, meint die Grünen-Politikerin.

Keine Impfdosis weniger

Selbst die FDP, die gern über schleppende Prozesse in der EU schimpft, ist zurückhaltend. „Einen nationalen Alleingang Deutschlands empfehlen wir nicht“, sagte Parteichef Christian Lindner dem RND. Die Bundesregierung solle gleichwohl auf die Ema einwirken, dass es baldmöglichst zu einer Zulassung komme: „Das kann noch in dieser Woche möglich sein.“

Die Ema selbst versichert, mit Hochdruck die Studienergebnisse von Biontech und seinem Partner Pfizer zu überprüfen. Die Experten würden Tag und Nacht daran arbeiten, versichert Direktorin Emer Cooke. Europapolitiker Liese sagt zwar auch, es dürfe nicht mehr „endlos dauern“, doch es „gibt da keine Beamten, die faul herumsitzen“.

Und außerdem: „Schnellere Zulassungen zum Beispiel in den USA und Großbritannien führen nicht dazu, dass wir auch nur eine Impfstoffdosis weniger bekommen“, sagt der CDU-Politiker. Entsprechende Befürchtungen seien unbegründet, so Liese: „Der für Deutschland vorgesehene Impfstoff ist zum Teil schon produziert und eingelagert.“

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