Weihnachtsansprache von Bundespräsident Steinmeier

Solidarität oder Spaltung: Wie sehr steht die Gesellschaft wirklich zusammen?

Der Bundespräsident lobt die Solidarität – doch wie solidarisch sind wir eigentlich?

Der Bundespräsident lobt die Solidarität – doch wie solidarisch sind wir eigentlich?

Jüngst war es die Fußball-WM der Männer in Katar, die die Spaltung offenbarte. Da waren diejenigen, die lautstark politische Signale und das offene Bekenntnis zu Menschenrechten forderten. Die, denen das Mund-zuhalten-Foto der deutschen Elf viel zu wenig war, die, die am liebsten einen Boykott gesehen hätten. Und dann waren da diejenigen, die den Sport Sport sein lassen wollten. Die, die sich über die „One Love“-Kapitänsbinde lustig machten, die, die über Boykottaufrufe spotteten.

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In den sozialen Medien wurden die Diskussionen emotional und aggressiv geführt. Menschenrechte und Fußball lassen sich nicht trennen, sagen die einen. Aber der Sport muss im Fokus stehen und die Fußballspieler können doch eh nichts dafür, sagen die anderen. Missgunst unterstellte gar Nationalkicker Niclas Füllkrug den Deutschen gegenüber der Nationalmannschaft.

Jeder gegen jeden – der Ton wird rauer

Die WM in Katar ist nur ein Beispiel, wie sich die Diskussionskultur in Deutschland verändert hat. Es gibt viele weitere. Impfgegner gegen Befürworter der Corona-Maßnahmen. Klimaprotestler gegen Konsumgesellschaft. Autofahrer gegen Radfahrer. Raucher gegen Nichtraucher. Leute, die Jan Böhmermann lustig finden, gegen Leute, die Jan Böhmermann nicht lustig finden. Team Harry und Meghan gegen Team Kate und William.

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Alle vereint, dass der Ton rauer wird, dass die Beleidigungen einfacher über die Tasten gehen. Aus Menschen, die helfen, werden Gutmenschen und Bahnhofsklatscher, Gegenteilige zu Nazis. Aus Kritikern an der Ukraine werden Putin-Trolle, aus Menschen, die die Corona-Maßnahmen für übertrieben halten, Corona-Leugner. Die tatsächlichen Begrifflichkeiten hinter den Worten spielen keine Rolle mehr. Sie dienen nur der Abwertung des Gegenübers.

Steinmeier lobt trotzdem Solidarität und Hilfsbereitschaft

Umso erstaunlicher also, wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache die Solidarität der Deutschen lobt, das füreinander Einstehen, die Hilfsbereitschaft. Dass er von Großherzigkeit spricht, von der Verantwortung, die wir der Gemeinschaft über empfinden würden.

Solidarität – ein gern genutzter Begriff. Er kommt aus dem Lateinischen und Französischen und bedeutet Zusammengehörigkeit. Zentral ist, dass sich eine oder mehrere Personen oder gar Gruppen gegenseitig helfen und unterstützen und einander Verständnis zeigen. Der Begriff prägte vor allem die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, als sich die Deutschen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen einsetzten. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt auf ihrer Website: „Solidarität kann auch ausgeübt werden, wenn man sich persönlich gar nicht kennt. Man fühlt sich dann solidarisch, weil jemand die gleiche politische Überzeugung wie man selbst hat oder weil es ihm schlecht geht und er Not leidet.“

Fronten innerhalb einer Demokratie hat es immer gegeben

Während die einen sich nahezu bedingungslos für Schwächere einsetzen, fürchten andere den Verlust des eigenen Status. Einer Studie der Universität Münster zufolge fühlt sich rund ein Drittel der Gesellschaft einem Lager zugehörig, das einen direkten Gegenpart hat. „Entdecker“ und „Verteidiger“ nennt die Studie sie: Rund 20 Prozent gehörten demnach zu den Verteidigern, die unzufrieden mit der Demokratie sind, sich vor Zuwanderung fürchten, Angst vor sozialem Abstieg haben und wenig Vertrauen in die Politik und Mitmenschen haben. Entdecker machen 14 Prozent aus, sie erleben Zuwanderung als Bereicherung und vertrauen der Demokratie und ihren Akteuren, wie „Stern“ berichtet.

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Da ist sie also, die viel zitierte Spaltung der Gesellschaft. Doch auch wenn die Fronten verhärtet wirken, gab es solche Spaltungen innerhalb der Gesellschaft immer. Afghanistan-Krieg, Kernkraft, Vietnam-Krieg, Abtreibungsverbot. Eine Demokratie lebt sogar davon, gegenteilige Meinungen und Lager zu haben. Die entscheidende Frage ist nicht die der Spaltung, sondern wie die Konterparts miteinander umgehen.

Spaltung ist nicht das Problem, die Diskussionskultur ist es

Und genau hier liegt derzeit eine der großen Herausforderungen. Diskussionen, vor allem in sozialen Netzwerken, eskalieren schnell. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Es gibt nur schwarz oder weiß. In der Münsteraner Studie steht, die „Verteidiger“ verhielten sich zunehmend aggressiv. Die „Entdecker“ wiederum setzten sich vehement für gesellschaftliche Veränderungen nach ihren Vorstellungen und Werten ein – maximale Offenheit und Diversität. Das führe, so die Studie, zu einer „zunehmend genervt-überheblichen Grundhaltung, welche die andere Seite nur umso mehr provoziert“.

Dieses gegenseitige Unverständnis, die permanente gegenseitige Abwertung, führt zu Stress – der vor allem in existenziellen Krisen ohnehin schon vorhanden ist. Es kommt zu einer Gereiztheit, die Nerven sind gespannt, schon eine Streitigkeit im Straßenverkehr kann zur Eskalation führen. „Die Stimmung wird zunehmend gereizt“, sagte Sozialpsychologin Barbara Krahé der „Apotheken-Umschau“. Schon in den 1940er-Jahren fand die Forschung heraus: Je eher Menschen in einer Gesellschaft frustriert sind, und je mehr sie frustriert sind, desto häufiger kommt es zu Aggressionen. „Wir erleben gerade in vielen Bereichen Frustration“, erklärte Krahé.

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Angst führt zu Stress führt zu Aggression

In den vergangenen Jahren wurden die Nerven häufig strapaziert. Da war etwa die Corona-Pandemie mit Lockdown, Angst vor Jobverlust, Angst vor Krankheit und Angst vor sozialem Abstieg. Da ist der Krieg in der Ukraine und nun kommen noch Energiekrise und Inflation dazu. „Alles, was uns negativ beeinflusst, kann die Schwelle für aggressive Gedanken, Gefühle und letztlich auch für aggressives Verhalten senken“, sagte Krahé.

In einer Studie des Instituts Allensbach, aus der „Der Tagesspiegel“ zitiert, heißt es, dass 70 Prozent der 30- bis 59-Jährigen mehr Angst, Ungeduld und Aggressivität im Alltag wahrnehmen würden. 50 Prozent glauben, dass der Egoismus zugenommen habe und Toleranz zurückgehe. Es war von einer „kälteren Gesellschaft“ nach Corona als zuvor die Rede. Übrigens: Der Straßenverkehr wird dort als deutlich aggressiver wahrgenommen als soziale Medien – neun von zehn Befragten gaben an, im Straßenverkehr rücksichtsloses Verhalten zu erleben.

Solidarität der Deutschen zeigt sich im Spendenwesen

Wie also kommt Frank-Walter Steinmeier darauf, ausgerechnet jetzt den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft zu loben? Gänzlich unrecht hat der Bundespräsident nicht: Vor allem nach Russlands Überall auf die Ukraine zeigte sich eine Welle der Solidarität. Geflüchtete wurden von Familien aufgenommen, Kleidung und Spielsachen wurden verteilt, Menschen wurden binnen kürzester Zeit integriert. Nie spendeten die Deutschen für eine Katastrophe mehr als für die Nothilfe Ukraine: Bis 14. Oktober gingen 862 Millionen Euro an Spendengeldern ein.

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Wie schon im vergangenen Jahr wird auch 2022 erwartet, dass rund 4 Milliarden Euro an Spendengeldern gesammelt werden. „Das erheblich gesteigerte Spendenverhalten ist ein fantastischer Beleg der Solidarität der Deutschen, auch in sehr schweren Zeiten“, bescheinigte Max Mälzer, Geschäftsführer des Deutschen Spendenrates, dem Magazin „National Geographic“.

Bundespräsident Steinmeier erinnert an die Mutmacher

Der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und die generelle Spendenbereitschaft der Deutschen sind zwei Mutmacher. Von diesen gibt es weitere. Von 2017 bis 2021 etwa hat die Aktion #keinerbleibtallein 140.000 Familien und Menschen dazu bewegt, an den Weihnachtstagen ihr Heim für eine fremde Person zu öffnen, damit diese an den Feiertagen nicht alleine ist. Es gibt sie also, die Solidarität in Deutschland.

Vielleicht sind die Worte von Frank-Walter Steinmeier eine Erinnerung daran, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Die Welt ist komplex, ebenso ihre Probleme, manches macht Angst, vieles verunsichert. Und doch gibt es ebenjene positive Beispiele, die zeigen, dass die Lage nicht ohne Hoffnung ist. Steinmeiers Worte können als Mahnung verstanden werde, die „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“-Mentalität abzulegen und zu reflektieren, wie solidarisch man sich selbst eigentlich verhält, wie oft es ein weniger beleidigender Begriff in einer Diskussion auch tun würde, und wann wir eigentlich das letzte Mal wirklich selbstlos waren.

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