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Nach Staudammzusammenbruch

„Alles um uns herum ist überflutet“: Ukrainer harren im russisch besetzten Flutgebiet aus

Ein Freiwilliger trägt eine Frau, die aus einem überschwemmten Viertel am linken Ufer des Dnipro in Cherson, Ukraine, evakuiert wurde.

Ein Freiwilliger trägt eine Frau, die aus einem überschwemmten Viertel am linken Ufer des Dnipro in Cherson, Ukraine, evakuiert wurde.

Kiew. Seit Tagen hat die junge Jektarina But mit ihrem 83‑jährigen Großvater und zwei anderen Senioren auf einem Dachboden in ihrem überfluteten Heimatort ausgeharrt, in der Hoffnung auf Hilfe nach dem katastrophalen Zusammenbruch des Kachowka-Staudammes. Aber Hilfe kommt offenbar nur langsam im russisch besetzten Oleschky am Ufer des Dnipro, das der Stadt Cherson gegenüberliegt. Wie Gestrandete und ihre ukrainischen Retter schildern, beschlagnahmen russische Kräfte die Boote von Helfern, und manche sagen, dass die Soldaten nur Einwohner mit russischen Pässen in Sicherheit brächten.

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Russische Soldaten stehen an den Kontrollpunkten, hindern Retter am Zugang zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten und nehmen ihre Boote.

Jaroslaw Walisiew, freiwilliger Helfer

„Russische Soldaten stehen an den Kontrollpunkten, hindern Retter am Zugang zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten und nehmen ihre Boote“, sagt Jaroslaw Walisiew, ein Freiwilliger. „Sie haben Angst vor Saboteuren, sie verdächtigen jeden.“

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Wohl Tausende sitzen im Überschwemmungsgebiet fest

So bleibt der 19‑jährigen But und den drei anderen auf dem Dachboden nichts anderes übrig als zu warten – zusammen mit Tausenden anderen, die vermutlich im Überschwemmungsgebiet festsitzen. Das Wasser hat sich in der Region Cherson auf einer Fläche von 800 Quadratkilometern ausgebreitet, und Offiziellen zufolge liegen zwei Drittel davon in russisch besetztem Territorium.

Wir haben Angst, dass niemand es wissen wird, wenn wir sterben.

Ukraine Jektarina But

Die Leute in der Dachkammer haben keinen Strom, kein fließendes Wasser, nichts zu essen. Der Akku in Buts Handy ist fast leer. „Wir haben Angst, dass niemand es wissen wird, wenn wir sterben“, sagte die Ukrainerin in einem kurzen Telefonat mit zitternder Stimme. „Alles um uns herum ist überflutet. Es gibt weiter keine Hilfe.“ Ihrem Großvater, der einen Schlaganfall erlitten hat, gingen die Medikamente aus, sagt But. Die Großmutter einer Nachbarin, die sich mit ihr unter dem Dach aufhalte, könne sich nicht selbstständig fortbewegen.

Manchen wurde Rettung verweigert

Manchen ist die Rettung anscheinend schlicht verweigert worden. Viktoria Mironowa-Baka zum Beispiel hatte nach eigenen Angaben von Deutschland aus Kontakt mit im Flutgebiet festsitzenden Verwandten. „Meine Angehörigen sagten mir, dass russische Soldaten heute mit einem Boot zum Haus kämen, aber sie nur jene mit russischen Pässen mitnehmen würden“, schilderte sie der Nachrichtenagentur AP. Ihre Großmutter, Tante und mehr als ein Dutzend andere Leute hätten auf dem Dachboden eines zweistöckigen Hauses Zuflucht gesucht.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Es ist oft schwer, Einzelheiten über das Leben in den russisch besetzten Teilen der Ukraine zu erfahren. So konnte AP die Angaben über die Beschlagnahme von Booten oder darüber, dass nur Menschen mit russischen Pässen gerettet würden, nicht unabhängig verifizieren. Aber sie liegen auf einer Linie mit Berichten unabhängiger Medien.

Gegensatz zum ukrainisch kontrollierten Überschwemmungs­gebiet

Es ist ein krasser Gegensatz zum ukrainisch kontrollierten Überschwemmungs­gebiet. Dort hat es breit angelegte Evakuierungen gegeben, und Hilfsgüter sind herbeigeschafft worden. Am Donnerstag hat sich Präsident Wolodomyr Selenskyj persönlich vor Ort ein Bild von der Lage gemacht. Kremlchef Wladimir Putin plant zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Besuch im betroffenen russisch besetzten Gebiet, wie Sprecher Dmitri Peskow Journalisten sagte.

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Die Region hat immens gelitten, seit der russische Angriffskrieg Ende Februar vergangenen Jahres begann, war manchmal beinahe unablässigem Artilleriefeuer und Raketenbeschuss ausgesetzt. Dann brach am Dienstag der Kachowka-Staudamm etwa 80 Kilometer flussaufwärts von Oleschky zusammen, Sturzfluten ergossen sich in den Dnipro und das Gebiet, in dem die Fronten des Krieges verlaufen.

Ukraine beginnt laut Putin mit Gegenoffensive

Russische Militärblogger berichteten, es seien Panzer aus deutscher und US-Herstellung gesichtet worden.

Mehr als 6000 Menschen in Sicherheit gebracht

Nach Angaben von Behördenvertretern sind mehr als 6000 Einwohner aus Dutzenden überschwemmten Städten und Dörfern auf beiden Seiten des Flusses in Sicherheit gebracht worden. Aber das wahre Ausmaß der Katastrophe in dieser Region, in der einst Zehntausende Menschen lebten, ist unklar.

Mindestens 14 Menschen sind in den Fluten ums Leben gekommen, viele sind obdachlos und Abertausende ohne Trinkwasser. Landwirtschaftliche Anbaugebiete wurden verwüstet, Feldfrüchte vernichtet und Landminen weggeschwemmt. Wie es aussieht, wird es auf lange Sicht an Strom mangeln.

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Gegenseitige Vorwürfe

Die Ukraine sagt, dass Russland den Damm gesprengt habe. Russland wirft der Ukraine vor, ihn bei einem Raketenangriff zerstört zu haben. Aufnahmen einer Drohne, die ein AP‑Team am Mittwoch über die Reste des Dammes flog, zeigten keine Brandflecken oder Schrapnellspuren, die typisch für Bombardierungen sind. Der Großteil des Dammes liegt jetzt unter Wasser, und die Bilder stellten nur einen begrenzten Schnappschuss dar, was es schwer macht, ein Szenario auszuschließen.

Der Damm – seit der Invasion im Februar 2022 unter Kontrolle der Angreifer – war außerdem durch russische Vernachlässigung geschwächt, seit Wochen Wasser über ihn getreten.

Russen beschießen von der Flut betroffene Gebiete

Die Tragödie wird noch dadurch verstärkt, dass die Russen von der Flut betroffene Gebiete beschossen haben, darunter Cherson. Dort war am Donnerstag Granatfeuer nicht weit entfernt von einem Platz zu hören, auf dem Rettungsteams und Freiwillige Hilfsgüter verteilten. Ukrainischen Behördenvertretern zufolge wurden auch einige Evakuierungspunkte getroffen und dabei neun Menschen verletzt.

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Russland sagt, dass es Zivilisten im Überschwemmungsgebiet helfe. Der von Moskau eingesetzte Gouverneur Wladimir Saldo sprach von mehr als 4000 Menschen, die aus den Flutzonen in Sicherheit gebracht worden seien. Aber Oleschkys Bürgermeister Jewhen Ryschtschuk widerspricht. Er sagt, dass manche Menschen von russischen Soldaten am Versuch gehindert worden seien, die Flutgebiete zu verlassen.

Gestern kamen einige Russen am Morgen, holten ein paar Leute von den Dächern, machten ein Video und verzogen sich wieder.

Oleschkys Bürgermeister Jewhen Ryschtschuk

Anderen, die russisch kontrollierte Notdienste angerufen hätten, sei gesagt worden, dass sie warten müssten. „Gestern kamen einige Russen am Morgen, holten ein paar Leute von den Dächern, machten ein Video und verzogen sich wieder“, schilderte Ryschtschuk kürzlich. „Das ist alles, was sie bis heute getan haben.“ Der Bürgermeister war aus Oleschky geflohen, nachdem die Russen versucht hatten, ihn zur Zusammenarbeit zu zwingen, hält aber weiter engen Kontakt zu Einwohnern.

Menschen harren auf Dächern aus

Ukrainische Hilfsaktionen werden zum großen Teil von Freiwilligen organisiert, die via App kommunizieren. Allein eine einzelne dieser Gruppen spricht von über 1000 Ersuchen, Menschen ausfindig zu machen und zu retten, zumeist in Oleschky und dem benachbarten Hola Prystan.

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Mitteilungen über gestrandete Menschen, die oft auf den Dächern ihrer Häuser festsitzen, treffen in diesen Gruppen alle paar Minuten ein, zumeist von Verwandten in sichereren Gebieten gepostet. Eine davon lautete: „Wir haben nach einer Person namens Serhij Borsow gesucht. Er wurde gefunden. Leider tot. Wir sprechen den Angehörigen unser Beileid aus.“

RND/AP

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