Umstrittenes Vorhaben der Ampelkoalition: Bundestag entscheidet über Wahlrechtsreform
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Der Deutsche Bundestag will in einer Wahlrechtsreform über die Sitzverteilung nach der nächsten Bundestagswahl mit einem neuen Bundeswahlgesetz entscheiden.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Berlin. Nach einem langen und erbitterten Streit entscheidet der Bundestag am Freitag über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition. Das Vorhaben wird von Union und Linkspartei strikt abgelehnt. Mit der Reform soll der auf 736 Abgeordnete angewachsene Bundestag ab der nächsten Wahl dauerhaft auf 630 Mandate verkleinert werden. Ursprünglich wollte die Ampel das Parlament sogar wieder auf die im Bundeswahlgesetz genannte Sollgröße von 598 Abgeordneten reduzieren. Nachdem die Union den ersten Vorschlag von SPD, Grünen und FDP abgelehnt hatte, warteten die Ampelfraktionen mit der neuen Variante auf, die vor allem bei der CSU für noch mehr Zorn sorgt.
Erreicht werden soll die Verkleinerung des Parlaments, indem auf Überhang- und Ausgleichsmandate ganz verzichtet wird. Diese sorgten bislang für eine Aufblähung des Bundestages. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über Direktmandate mehr Sitze im Bundestag erringt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustünden. Sie darf diese Sitze behalten. Die anderen Parteien erhalten dafür Ausgleichsmandate. Nach den neuen Regeln kann es künftig vorkommen, dass ein Bewerber seinen Wahlkreis zwar direkt gewinnt, aber trotzdem nicht in den Bundestag einzieht. Dies erzürnt vor allem die CSU.
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Union und Linke fühlen sich einseitig benachteiligt
Zudem soll laut dem Ampelentwurf eine strikte Fünfprozentklausel gelten. Die sogenannte Grundmandatsklausel entfällt. Sie sorgte bisher dafür, dass Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einzogen, wenn sie unter fünf Prozent lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Davon profitierte bei der Wahl 2021 die Linkspartei. Wenn sie gestrichen wird, könnte das, je nach Wahlergebnis, in Zukunft auch Konsequenzen für die bayerische Regionalpartei CSU haben.
SPD, Grüne und FDP argumentieren, dass die Verkleinerung alle Parteien gleichermaßen treffe. Die Reform sei damit fair und verfassungsgemäß. Union und Linke fühlen sich dagegen einseitig benachteiligt und haben bereits deutlich gemacht, dass sie das Bundesverfassungsgericht anrufen wollen.
CSU-Generalsekretär bezeichnet Wahlrechtsreform als „völlig absurd“
CDU-Chef Friedrich Merz sagte der „Welt“: „Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Koalition bereit ist, ihre Pläne für eine Wahlrechtsreform noch einmal zu überdenken.“ Er werde die Debatte am Freitag im Bundestag verfolgen und gegebenenfalls vorschlagen, ob man über die Wahlrechtsreform „nicht in der kommenden Woche noch mal in Ruhe reden will“, sagte Merz, der auch Unionsfraktionschef ist.
CSU-Generalsekretär Martin Huber hat sich entschieden gegen die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition ausgesprochen. Wenn ein Kandidat einen Wahlkreis direkt gewinne und am Ende unter Umständen nicht in den Bundestag einziehe, bilde das nicht den Wählerwillen ab, sei unrepräsentativ und „völlig absurd“, sagte Huber am Freitag im Deutschlandfunk.
CDU und CSU hätten auch Vorschläge unterbreitet, die die Regierung jedoch ignoriert habe, sagte Huber. „Die Union hat im Zuge der jetzigen Verhandlungen auch vorgeschlagen, die Zahl der Bundeswahlkreise nochmals zu verringern, von 280 auf 270. Auch das würde zu einer Verkleinerung des Bundestages beitragen.“ Auf die Frage zu einer möglichen Fusion der CSU mit der CDU antwortete Huber: „Ich halte diesen Vorschlag für absolut anmaßend und arrogant, wenn man einer Partei vorschreiben will, dass sie sich auflöst und einer anderen Partei anschließt“. Huber zufolge bilden CDU und CSU gemeinsam die „starke Union“.
Wahlrechtsreform: Söder sieht CSU-Existenz bedroht
Markus Söder sieht mit dem Entwurf der Ampelkoalition zu einem neuen Bundeswahlrecht die Existenz seiner Partei infrage gestellt.
© Quelle: dpa
Linken-Chef Martin Schirdewan sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Der Bundestag muss kleiner werden. Aber der Vorschlag der Ampel enthält fatale Fehler. Mit der geplanten Reform sollen politische Mitbewerber der Ampel aus dem Parlament gekegelt werden, indem die Grundmandatsklausel gestrichen werden soll.“
Union will gegen Ampelvorschlag klagen
Für die Reform muss das Bundeswahlgesetz geändert werden. Die Ampelkoalition wird dies wohl mit ihrer Mehrheit im Bundestag beschließen. Abstimmungen darüber in den Fraktionen fielen bei Grünen und FDP einstimmig und bei der SPD mit sehr großer Zustimmung aus.
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sich selbst für eine Wahlrechtsreform eingesetzt. Zu den Plänen der Ampel sagte er aber dem „Spiegel“: „Hier wird ein System geschaffen, das auf Täuschung und Enttäuschung des Wählers ausgelegt ist.“ Dem Wähler werde suggeriert, er könne seine Wahlkreiskandidaten direkt wählen – dabei werde der Kandidat am Ende womöglich gar nicht ins Parlament gelangen. „Eine solche Irreführung der Wähler ist auch ein verfassungsrechtliches Problem.“ Wenn der Entwurf der Ampel durchkomme, müsse die Union dagegen klagen, sagte Schäuble.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese verteidigte die Pläne. Er sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Wir haben in den vergangenen Jahren viele Argumente ausgetauscht und Modelle berechnet.“ In der Zeit sei der Bundestag immer weiter angewachsen. Nun müsse man handeln. Ziel aller Parteien müsse es sein, über die Fünfprozenthürde zu kommen – „das beschließt mit der FDP übrigens auch eine Partei, die an genau dieser Hürde schon gescheitert ist“. Dies sei ein Beleg dafür, dass es um eine echte Reform gehe, „nicht um Besitzstandswahrung“. Die Verhandlungen mit der Union hätten gezeigt, dass eine effektive Reform mit der CSU nicht zu machen sei.
Ist die Wahlrechtsreform fair? Eine Bestandsaufnahme
Die Ampelkoalition hält ihre Wahlrechtsreform für fair. Begründung: Alle Parteien müssten dabei gleichermaßen zur Verkleinerung des Bundestags beitragen. Stimmt das?
Bei der Bundestagswahl 2021 holte die SPD 206 Mandate, die CDU 152, die CSU 45, die Grünen 118, die FDP 92, die AfD 83 und die Linke 39 Mandate. Der SSW als Partei der dänischen Minderheit gewann einen Sitz. Der Wahlrechtsforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung hat ausgerechnet, welche Folgen es gehabt hätte, wenn das neue Recht schon damals angewandt worden wäre. Dann sähe die Sitzverteilung so aus: SPD 188, CDU 138, CSU 38, Grüne 107, FDP 83, AfD 75, SSW 1.
In Bayern hätten nach der neuen Regelung sieben Wahlkreisgewinner keinen Platz im Bundestag bekommen, in Baden-Württemberg zehn, in Brandenburg drei, in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin je zwei sowie im Saarland einer. Fünf Wahlkreise wären demnach im Bundestag nicht vertreten.
Die Argumentation der Ampelkoalition ist also nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist aber auch die Kritik der Linkspartei, dass sie besonders hart getroffen werde. Sie säße schließlich wegen des Wegfalls der Grundmandatsklausel nicht mehr im Bundestag.
Das wäre nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Ampel anders gewesen. Er sah ein Beibehalten der Grundmandatsklausel vor, aber auch eine stärkere Reduzierung der Abgeordnetenzahl auf 598. Das hätte für das Bundestagswahlergebnis 2021 nach Vehrkamps Berechnungen folgende Sitzverteilung ergeben: SPD 168, CDU 124, CSU 34, Grüne, 96, FDP 75, AfD 68, Linke 32, SSW 1.
RND/dpa