„Fehlerquellen im System“

Ist die Warnung angekommen?

Eine Alarmsirene ist auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses montiert.

Eine Alarmsirene ist auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses montiert.

In der Tagesschau vom 10. September 2020 taucht die Meldung erst am Ende auf. Nach den Nachrichten zum Brexit-Streit, zur Afrikanischen Schweinepest und den neuen Corona-Risikogebieten. Dann erst kommt Jan Hofer zum ersten bundesweiten Warntag seit der Wiedervereinigung: „Probealarm fehlgeschlagen“ lautet die Schlagzeile.

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Landesweit sollte damals getestet werden, wie gut die Bevölkerung etwa vor einer Naturkatastrophe, einem Stromausfall oder einem Anschlag gewarnt wird. Über Sirenen, über Warn-Apps wie Nina oder Katwarn. Doch vielerorts blieben die Sirenenhörner stumm und viele App-Nutzer empfingen die Probewarnung gar nicht oder erst eine halben Stunde später. Ein Desaster für das zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK).

Der damalige BBK-Chef Christoph Unger musste gehen, das Innenministerium unter Horst Seehofer bezeichnete den Probealarm als „fehlgeschlagen“. Die Gesellschaft reagierte vor allem mit Spott: War ja klar, dass unsere Verwaltung das nicht hinbekommt; ach ja, die Digitalisierung in Deutschland. Den erfolgreichsten Tweet ließ der Deutsche Gehörlosen-Bund los („Also wir haben nichts gehört“).

Nur wenige fragten sich: Was wäre, wenn es tatsächlich zu einer Katastrophe kommen würde? Im Ernstfall hätten viele Menschen davon an diesem 10. September 2020 nichts mitbekommen – zumindest nicht von offizieller Stelle.

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Mehr als zwei Jahre später steht der nächste bundesweite Warntag an. Und die Vorzeichen sind gänzlich anders. Die Corona-Pandemie mag sich normalisieren, dafür sind der Ukraine-Krieg und die Energiekrise hinzugekommen. Im Internet zeigen Prepper, wie man bei einem Blackout mehrere Tage ohne Strom auskommt. Im Juli 2021 starben 134 Menschen bei der Jahrhundertflut im Ahrtal.

Die Katastrophen, die vielen Deutschen 2020 eher abstrakt erschienen, werden auf einmal als reale Bedrohung wahrgenommen. Und die Menschen im Land würden gerne von ihrer Regierung gewarnt werden, wenn es zu einem der Szenarios kommen sollte. Und zwar nicht erst eine halbe Stunde später.

Für das BKK ist es die zweite Chance: Kann sie dem Land heute um 11 Uhr beweisen, dass sie es doch hinbekommt? Was ist damals schiefgelaufen? Und was hat sich seitdem verändert?

Proben für den Ernstfall: Bundesweiter Warntag am 8. Dezember

Beim ersten bundesweiten Warntag gab es 2020 gravierende technische Probleme. Der nächste wurde abgesagt. Nun soll dieses Mal alles besser funktionieren.

Die Flutkatastrophe führte zum Umdenken

Als der Probealarm beim letztmaligen Warntag schiefging, konnte noch niemand ahnen, was für verheerende Konsequenzen ein missglückter Katastrophenschutz haben könnte. Etwa ein Jahr später stieg das Wasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, Hunderte Menschen verloren in der Flut ihr Leben.

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An Ahr und Erft wiederholte sich das Worst-Case-Szenario vom Testalarm 2020: Warnungen blieben aus, öffentlich-rechtliche Sender verschliefen das Ereignis zum Teil komplett, Apps wie Katwarn oder Nina verschickten Meldungen entweder zu spät oder blieben wegen Kommunikationsproblemen gleich ganz stumm. Nach der Flutkatastrophe fragten sie sich, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Hochwasserwarnungen frühzeitig rausgegangen wären.

Auf die Politik wirkte das Unglück wie ein Fanal. Der Bund hatte schon im Fürhjahr 2021 ein Sirenenförderprogramm von rund 90 Millionen Euro aufgelegt, das BBK sollte die Mittel an die Länder verteilen. Doch erst nach der Flut gingen viele Katastrophenschützer das Problem ernsthaft an. Vor allem aber brachte Horst Seehofer in seinen letzten Monaten als Innenminister eine Technologie auf den Weg, die Experten seit Jahren fordern und die das Warnsystem nun schlagartig verbessern soll: Cell Broadcast.

Auch in Altenahr-Kreuzberg, Rheinland-Pfalz, richtete die Flut 2021 verheerende Schäden an.

Auch in Altenahr-Kreuzberg, Rheinland-Pfalz, richtete die Flut 2021 verheerende Schäden an.

Cell Broadcast: Der neue Krisenhelfer

Cell Broadcast macht es möglich, dass ein Funkmast eine Meldung an sämtliche Handys in seinem Einzugsgebiet – seiner Funkzelle – verschickt. So müssen Smartphonenutzerinnen und -nutzer künftig keine Warn-Apps auf ihrem Gerät installieren, um Hinweise zu bekommen. Meldungen sollen via Cell Broadcast automatisch an alle Menschen geschickt werden, die sich in einem Gefahrengebiet aufhalten; in Form einer Push-Mitteilung, untermalt von einem lauten Piepton. Selbst bei überlasteten Mobilfunknetzen sollen Cell-Broadcast-Mitteilungen einwandfrei übertragen werden können.

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Für Experten kommt die Einführung jedoch „mindestens 15 Jahre zu spät“, wie etwa Johannes Rundfeldt von der AG Kritis gegenüber dem RedaktionsNetzwerk (RND) sagt. In der Arbeitsgruppe Kritische Infrastrukturen setzen sich Fachleute mit der Versorgungssicherheit im Katastrophenfall auseinander.

Kommt Cell Broadcast viel zu spät?

Rundfeldt verweist auf den 2001 erschienen Zweiten Gefahrenbericht der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, in dem die Cell-Broadcast-Technik bereits hervorgehoben wurde. „Man hatte also mindestens 20 Jahre Kenntnis davon. Da muss man sich fragen: Ab wann ist etwas grob fahrlässig?“ Die späte Einführung, so Rundfeldt, sei inakzeptabel und nur aufgrund der Flutkatastrophe zustande gekommen.

Man hatte mindestens 20 Jahre Kenntnis von Cell Broadcast. Da muss man sich fragen: Ab wann ist etwas grob fahrlässig?

Johannes Rundfeldt

Sprecher AG Kritis

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Tatsächlich nutzen einige Ländern den in den 1990er-Jahren entwickelten Warndienst bereits seit Jahren, darunter Japan, die USA, Australien und viele europäische Staaten. In vielen Katastrophenfällen, zum Beispiel bei Erdbeben, hat Cell Broadcast sich als unerlässlich erwiesen.

Deutschland sträubte sich hingegen. Noch kurz nach dem verheerenden Hochwasser sagte der damalige BBK-Chef Armin Schuster zur möglichen Einführung von Cell Broadcast, diese sei „extrem teuer“. Und nannte einen Betrag von 30 bis 40 Millionen Euro. Was zur makabren Frage führt: Wie viele Millionen ist dem Staat der Schutz der Leben seiner Bürgerinnen und Bürger wert?

Das Flutunglück und der öffentliche Druck sorgten dafür, dass Cell Broadcast doch installiert wurde. Der diesjährige Warntag soll ein erster Lackmustest sein, ob der Dienst funktioniert. Um das System ordentlich zu implementieren, fiel der Warntag im letzten Jahr deshalb aus. Klar ist: Auch Cell Broadcast wird nicht alle Menschen erreicht können, Behörden gehen etwa von der Hälfte der Handynutzenden aus. Der Rest kann die Nachrichten aufgrund veralteter Geräte nicht empfangen. Auf seiner Website listet das BBK geeigneten Modelle auf.

Systemkollaps vor zwei Jahren

Neben Cell Broadcast sollen dieses Jahr auch Warn-Apps wie Nina oder Katwarn endlich richtig funktionieren. 2020 kam es zu einer Überlastung des satellitengestützten Modularen Warnsystems (MoWas), über das Bund und Länder Meldungen über verschiedene Kanäle herausschicken können. Am Warntag 2020 sei geplant gewesen, dass allein das BBK von ihrer Bonner Zentrale aus die Testmeldung über die Warn-Apps herausgibt, erklärte der damals verantwortliche Behördenchef Christoph Unger. Doch stattdessen versendeten die Leitstellen von Ländern und Kommunen gleichzeitig Mitteilungen. „Das hat das System nicht verkraftet“, sagte Unger seinerzeit.

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Auf Nachfrage des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) teilt das BBK mit, die „Fehlerquellen im System“ seien inzwischen ausgeräumt. „Die gewonnenen Erkenntnisse werden auch genutzt, um die Systeme für höhere Spitzenlasten aufzubauen.“ Man habe zudem die Weiterleitung von Warnmeldungen an die Systeme von Apple und Google optimiert. In Deutschland nutzen etwa 13 Millionen Menschen die App Nina, etwa fünf Millionen Katwarn.

Auch das BMI, das für das BBK zuständig ist, äußert sich gegenüber dem RND zuversichtlich: „Dieser technische Fehler wurde behoben und das System unter anderem einer Lasterprobung unterzogen, die keine Probleme bei der Verarbeitung von Warnmeldungen mehr aufgezeigt hat.“

Alles breit also für den großen Tag? Die Behörden wissen: Beim diesjährigen Warntag geht es um weit mehr als um eine funktionierende Kommunikation – es geht um Vertrauen. Funktioniert dieses Land noch? Darüber machen sich viele Menschen Gedanken, gerade jetzt in Krisenzeiten.

Auf ihn kommt es jetzt an: Ralph Tiesler ist seit Juni 2022 neuer Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK).

Auf ihn kommt es jetzt an: Ralph Tiesler ist seit Juni 2022 neuer Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK).

„Wir brauchen einen Neustart“

Die misslungene Absprache 2020 zwischen Bund und Ländern steht symptomatisch für die öfters hapernde Zusammenarbeit zwischen den Ebenen, etwa während der Coronakrise. Johannes Rundfeldt von der AG Kritis sieht den 2020 geschaschten BBK-Chef Unger denn auch als „Bauernopfer“. „Es ist ein hausgemachtes Problem im Bundesinnenministerium, das die Fach- und Rechtsaufsicht über die BBK hat. Es nützt nichts, nur symbolisch den Chef auszutauschen, anstatt die Ursachen zu beheben.“

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Auch für andere Fachleute war der fehlgeschlagene Warntag 2020 keine Überraschung. „Alle, die in diesem Bereich tätig sind, wussten, dass wir keine robuste Warninfrastruktur haben“, sagt Martin Voss, Leiter der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin.

Der Warntag sei eine „vertane Chance“ gewesen, sagt er. Der Tag hätte im Vorherein genutzt werden können, um offen auf die Mängel des Katastrophenschutzes hinzuweisen. Vom BBK erhofft er sich deshalb eine andere Kommunikationsstrategie. Die Behörde solle stärker an die Öffentlichkeit gehen und eingestehen, „dass wir in Deutschland nicht gut vorbereitet sind: Das hat die Pandemie und die Katastrophe im Ahrtal gezeigt. Wir haben nicht genug vorzuweisen und brauchen einen Neustart.“

Schwierigkeiten und Schwachstellen zu kommunizieren liegt nicht in der DNA der Verwaltung

Martin Voss

Leiter der Katastrophenforschungsstelle an der FU Berlin

Voss fordert in diesem Zuge mehr Transparenz, um die Menschen teilhaben zu lassen: „So steht es um den Bevölkerungsschutz in Deutschland, das ist unsere Kommunikationsinfrastruktur, so viele Schutzbunker haben wir, das sind die personellen Ressourcen auf Bund- und Länderebene.“ Dies solle auch „zahlenmäßig“ offengelegt werden.

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Er schlägt deshalb vor, ein unabhängiges Kompetenzzentrum zur gesellschaftlichen Resilienz aufzubauen. „Man muss die Demokratie befähigen, dass Druck vom Volk ausgehen kann. Dann kann die Gesellschaft fordern, dass sie mehr Schutz haben will – im Wissen, dass aber eben auch mehr Steuergeld kostet.“ Die Fehlerkultur im deutschen System verhindere dies jedoch. „Eine Behörde möchte vor allem zeigen, was es alle gut kann. Schwierigkeiten und Schwachstellen zu kommunizieren liegt nicht in der DNA der Verwaltung.“

Nach dem misslungenen Warntag 2020 erwartet Voss auch, dass auch 2022 nicht alles glatt gehen wird. „Wenn ja, dann hat einer gemogelt. Es besteht diese Tendenz, dass man vor allem das übt, was funktioniert – wir sollten uns aber darauf einstellen, dass das nicht passieren wird.“ Sinn einer Übung sei es gerade, Probleme aufzuzeigen.

Warntag 2022: Viele Sirenen werden stumm bleiben

Was derweil sicher noch nicht funktionieren wird, sind die meisten Sirenen im Land. Seit der Ahrtal-Tragödie versuchen Städte und Kommunen hektisch, ihre meist veralteten Anlagen auszutauschen. Die analogen Modelle können die derzeit erforderlichen Signale nicht empfangen. Vielerorts wurden Sirenennetze seit Ende des Kalten Krieges zudem ganz abgebaut. Nun kommen die Hersteller mit den Lieferungen nicht hinterher. Einer der größten Hersteller, die Firma Hörmann, teilte dem RND mit, dass sich die Nachfrage im Vergleich zu den Vorjahren verdoppelt habe. Die vom Bund aufgelegten Fördergelder von rund 90 Millionen Euro haben die Länder längst ausgeschöpft. Allein in Niedersachsen soll es einen Investitionsbedarf von 80 bis 100 Millionen Euro für neue Sirenen geben.

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Auf der jüngsten Innenministerkonferenz wurde deshalb gefordert, das Förderprogramm zu verlängern und aufzustocken. Das Bundesinnenministerium bestätigt gegenüber dem RND, dass auch der Bund einen Ausbau anstrebt – unter Haushaltsvorbehalt. „Für eine weitere Sirenenförderung erwartet der Haushaltsausschuss ein mit den Ländern abgestimmtes Konzept zur Finanzierung eines Folgeprogramms, bei welchem sich die Länder, zusätzlich zum Bund, maßgeblich beteiligen“, teilte ein Sprecher mit.

Eine neue elektronische Sirene ist im Ahrtal auf dem Dach des Gemeindehauses in Rech montiert worden.

Eine neue elektronische Sirene ist im Ahrtal auf dem Dach des Gemeindehauses in Rech montiert worden.

Im von der Flut so gebeutelten Ahrtal heulten die Sirenen derweil bereits am 12. November. 15 Sekunden lang, auf- und abschwellend. Eine Probealarm, der erste aus 85 neuen Anlagen, die der Kreis errichten ließ. Sie stehen auf Dächern, auf Parkplätzen, in der Nähe immer noch zerstörter Brücken am Wasser. Als weithin sichtbareres Zeichen, „um den Bürgerinnen und Bürgern wieder ein Stück Sicherheit zurückzugeben“, wie ein Kreisvertreter die Anschaffung vor einem Jahr begründete.

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