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Grüner Kurswechsel oder: Emily Büning und die Tanne der Verantwortung

Emily Büning (Grüne) zwischen parteifarbenen Tannen

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Liebe Leserin, lieber Leser,

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Emily Büning gehört im Berliner Regierungsviertel eher zu den Pflanzen, die im Schatten gedeihen. Wenn Landtagswahlen stattgefunden haben, sieht man sie im Fernsehen – bei den sogenannten „Elefantenrunden“, in denen Generalsekretäre ihre Parteien auch dann noch zu Gewinnern erklären, wenn sie krass verloren haben. Einmal jährlich darf die 38-Jährige den Parteitag eröffnen – den Parteitag der Grünen. Dennoch hält sich ihr Bekanntheitsgrad in Grenzen.

Emily Büning (Grüne) zwischen parteifarbenen Tannen - hier als Montage.

Emily Büning (Grüne) zwischen parteifarbenen Tannen - hier als Montage.

Tatsächlich ist Büning nicht allein Politische Bundesgeschäftsführerin der Ökopartei. Sie kommt auch so unschuldig rüber wie eine Ministrantin, die im katholischen Gottesdienst die Fürbitten liest. So sagte Büning bei der letzten Bundesdelegiertenkonferenz: „Am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen.“ Und sie sagte es so absolut ironiefrei, dass man sicher sein konnte: Niemand sonst außer den Grünen kommt für diese Herkulesaufgabe in Betracht. Bei der Vorstellung des Europawahlprogramms in der vorigen Woche verhielt es sich ähnlich. „Unsere Partei brennt leidenschaftlich für Europa“, sagte Büning mit brüchiger Stimme. Die Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour schienen irritiert. So kannten sie die Grünen offenbar noch gar nicht. Sollten sie etwa eine Mitarbeiterin haben, die es ernst meint?

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Bei derselben Veranstaltung sagte Büning aber noch etwas anderes, nämlich: „Sie sehen nicht nur das Programm, sondern auch die Veranstaltung in einem neuen Look. Wir zeigen Ihnen erstmals unser neues Grundlagendesign, mit dem wir uns optisch modernisieren und zudem auch den Wechsel in die Rolle als Regierungspartei vollziehen. Sie werden mehr davon sehen in den nächsten Wochen und Monaten. Das kann ich Ihnen versprechen.“

Ein gesetztes Grün für die Regierungspartei

Auf eine ungläubige Nachfrage antwortete die Grünen-Politikerin: „Wir haben als Partei nach der letzten Bundestagswahl Verantwortung in der Bundesregierung übernommen. Wir haben Verantwortung in Regierungen in vielen Bundesländern aktuell und wir haben uns weiterentwickelt als Partei. Und wir haben uns entschieden, hier eine dunkle Farbe, wir nennen sie ‚Tanne‘, zu wählen als Hauptfarbe, die eben auch diesen Verantwortungston auch nochmal zeichnet.“

Eine Tanne ist ab jetzt nicht mehr nur einfach eine Tanne. Es ist die Tanne der Verantwortung.

Man könnte das Ganze für Esoterik halten oder für einen teuren Marketinggag. Tatsächlich war eine Agentur beteiligt. Doch es steckt mehr dahinter.

Hellgrün strahlend ist Geschichte: Die bisherige Flagge mit dem Logo von Bündnis 90/Die Grünen.

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Farben haben eine Bedeutung, auch politisch. Das jedenfalls weiß Axel Buether zu berichten, Professor am Institut für Farbpsychologie der Bergischen Universität Wuppertal. So ist das Rot seit jeher mit der SPD verknüpft – und seit rund 15 Jahren in einer anderen Schattierung mit der Linken. Die Konservativen sind schwarz, die Liberalen gelb. Die FDP habe zuletzt mit Magenta experimentiert, sagt Buether. Das habe aber „nicht so gut geklappt. Denn wenn man die Farbe wechselt, ist man nicht mehr erkennbar.“

Daraus haben die Grünen ihre Schlüsse gezogen, zumal sie ihre Farbe ja im Parteinamen tragen, also gar nicht wechseln können. Ihnen bleibt lediglich die Wahl zwischen hell oder dunkel. Dass sie sich jetzt für eine dunklere Variante entschieden haben, findet der Farbpsychologe „absolut nachvollziehbar“. Dunklere Farbtöne seien „gesetzter und konservativer“. Dunkelgrün passe beispielsweise „ganz wunderbar zu Winfried Kretschmann“. Mit dem Verzicht auf den helleren Ton hätten die Grünen umgekehrt „Fridays for Future und das Rebellische ad acta gelegt“. Irgendetwas Unerwartetes sei von ihnen nicht mehr zu erwarten. Die Grünen machen fortan – um einem anderen Baum die Ehre zu geben – in Eiche rustikal.

Die Partei will Wohlstand sichern

Genau dies zu vermitteln, ist die Absicht. Spätestens mit dem Heizungsstreit sind die Grünen schließlich schwer unter Druck geraten – von konservativen und Rechtsaußenparteien ohnehin, aber ebenso von FDP und SPD. Es entsteht der Eindruck, als gehe mit den Grünen Wohlstand verloren. Die Kernbotschaft des grünen Europawahlprogramms ist, dass die Partei Wohlstand sichern will. Der Subtext lautet: Alle sollen ihre SUVs behalten dürfen. Der Wochenendtrip nach London? Kein Problem. Dafür bieten die Grünen Verantwortung nicht bloß an. Sie erwarten zugleich, dass man ihnen weiter Verantwortung gibt – nicht zuletzt, weil damit Ämter einhergehen. Die Partei hätte gern beides: Verantwortung und Ämter.

Das freilich würde Emily Büning so niemals sagen. Immerhin will die Politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen die Welt retten – wenn nötig mit einer stacheligen Tanne.

 

Bittere Wahrheit

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich für eine «neue Entschlossenheit» in der europäischen Flüchtlingspolitik ausgesprochen.

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich für eine «neue Entschlossenheit» in der europäischen Flüchtlingspolitik ausgesprochen.

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Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen.

Joachim Gauck

ehemaliger Bundespräsident, über die Flüchtlingspolitik

Joachim Gauck hat bereits in der Vergangenheit zu erkennen gegeben, dass er einer allzu liberalen Flüchtlingspolitik skeptisch gegenübersteht. Das hat er mit vielen ehemaligen Bewohnern der Deutschen Demokratischen Republik gemein, aus der allein zwischen Staatsgründung und Mauerbau 2,8 Millionen Menschen in ein besseres Leben gen Westen flohen. So sagte der heute 83-Jährige 2015 als Staatsoberhaupt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Kanzlerin Angela Merkel, ebenfalls Ostdeutsche, sagte in jener Zeit etwas anderes: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Während Gauck vor acht Jahren noch Kontroversen auslöste, bringt er heute eher eine Mehrheitsmeinung zum Ausdruck. Er weiß: Die meisten Deutschen sind erschöpft.

 

Wie das Ausland auf die Lage schaut

Zur Migrationskrise auf der italienischen Insel Lampedusa schreibt die spanische Zeitung „La Vanguardia“:

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„Es ist so, als würde sich die Einwohnerzahl von Madrid oder Barcelona, um nur zwei Städte zu nennen, in etwas mehr als einem Tag verdoppeln. Die Städte würden aus den Nähten platzen. Das Unvorstellbare geschieht nun auf Lampedusa. Die Insel erlebt nach Worten des örtlichen Pfarrers eine Apokalypse. Der Bürgermeister fordert sofortige Hilfe von der italienischen Regierung und auch von Europa. Es handelt sich um eine Herausforderung für Europa und seine Werte, um eine Frage, die jeden von uns angeht.

Die Migrationsfrage, sagte vor einiger Zeit (die damalige Bundeskanzlerin Angela) Merkel, werde uns in Zukunft mehr beschäftigen als die Stabilität des Euro. Sie (die Flüchtlinge) sind kein Problem, sie sind die Lösung. Jahrelang niedrige Geburtenraten, Bevölkerungsverluste und Überalterung werden dazu führen, dass die EU-Schranken für viele von ihnen geöffnet werden müssen. Die EU wird 60 Millionen Einwanderer brauchen, um zu überleben. In diesem Punkt hatte Merkel Recht.“

Ein überfülltes Boot mit Geflüchteten erreicht am 18. September die italienische Insel Lampedusa.

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Zu Ursula von der Leyens Rede zur Lage der EU meint die niederländische Zeitung „de Volkskrant“:

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„Die Pandemie ist vorbei, die Energiekrise ist abgeklungen, die nationalen Kassen sind leer, die EU-Haushaltsmittel gehen zur Neige und die Wirtschaft schwächelt. Kein Wunder, dass die vierte und möglicherweise letzte ‚Thronrede‘, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Straßburg hielt, auch die am wenigsten ambitionierte war. Es ging ganz altmodisch um Arbeitsplätze, Unternehmen und Landwirte.

Von der Leyen sprach ihr politisches Erbe an. Von dem Programm, mit dem sie 2019 (mit knapper Mehrheit) von den Abgeordneten gewählt wurde, seien 90 Prozent umgesetzt worden, sagt sie. Der Wissenschaftliche Dienst des EU-Parlaments schätzt das zwar niedriger ein (rund 60 Prozent), aber Fakt ist, dass von der Leyen von links bis rechts gelobt wurde. Der Green Deal, die Beschaffung von Impfstoffen, der 750 Milliarden Euro schwere Europäische Konjunkturfonds, die gemeinsame Gasbeschaffung, die Waffenfinanzierung für die Ukraine, die größere geopolitische Rolle der Union – das sind Errungenschaften, mit denen sie ihre Vorgänger blass aussehen lässt.“

 

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Herzlich

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