Wie Amerikas Rechte eine Zehnjährige für ihre Zwecke instrumentalisieren
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Abtreibungsgegner feiern nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, das bundesstaatlich geschützte Recht auf Abtreibung zu kippen, Ende Juni in Washington.
© Quelle: Jacquelyn Martin/AP/dpa
Washington. Am Ende war alles gut. Jedenfalls für Dave Yost, den Generalstaatsanwalt von Ohio: „Wir jubeln jedes Mal, wenn ein Kinderschänder festgesetzt wird“, erklärte der Republikaner in einer Pressemitteilung. Dass er persönlich das unfassbare Verbrechen wenige Tage zuvor als „wahrscheinliche Erfindung“ bezeichnet hatte, seine Parteifreunde das minderjährige Opfer zum Austragen der Schwangerschaft zwingen wollten und rechte Gesinnungsgenossen eine Verleumdungskampagne gegen die wichtigste Zeugin gefahren hatten, erwähnte er nicht.
Die Geschichte eines zehnjährigen Vergewaltigungsopfers aus Ohio, das wegen des dortigen Abtreibungsverbots in den Nachbarstaat Indiana reisen musste, um ärztliche Hilfe zu bekommen, rührt viele Amerikaner auf. Sie dokumentiert nicht nur auf beklemmende Weise die neue Realität nach der Aufhebung des bundesweiten Abtreibungsrechts durch den Supreme Court. Sie verdeutlicht zugleich den Fanatismus, mit dem fundamentalistische Christen und rechte Aktivisten in den USA die Wirklichkeit ausblenden und verbiegen.
Eine Lokalzeitung deckte den Skandal auf
Alles begann mit einem Bericht in der Lokalzeitung „Indianapolis Star“ vom 1. Juli. Da berichtete das Blatt, dass sich ein Arzt aus Ohio an die Gynäkologin Caitlin Bernard in Indianapolis gewandt hatte. In seine Praxis war ein zehnjähriges Mädchen gekommen, das nach einer Vergewaltigung schwanger war. In Ohio sind Abtreibungen nur noch bis zur sechsten Schwangerschaftswoche erlaubt, die bereits verstrichen war. Nach Angaben von Bernard leitete sie daraufhin bei dem Mädchen in Indiana eine medikamentöse Abtreibung ein.
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Der schockierende Fall sorgte für öffentliches Entsetzen bis hin zum Weißen Haus. „Eine Zehnjährige sollte gezwungen werden, das Kind eines Vergewaltigers zu gebären“, empörte sich Präsident Joe Biden: „Ich kann mir nichts Extremeres vorstellen.“ Damit war der Fall politisch geworden, und es dauerte nicht lange, bis rechte Politiker und Propagandisten eine breite Desinformations- und Verleumdungskampagne begannen.
Die Faktenbasis war tatsächlich schwierig: Der „Indianapolis Star“ zitierte namentlich nur die Gynäkologin Bernard. Die Identität des Opfers wurde zu dessen Schutz ebenso wenig preisgegeben wie die des mutmaßlichen Täters, bei dem es sich um einen Verwandten handeln könnte. Auch der ursprünglich behandelnde Arzt blieb – wohl aus Sorge vor strafrechtlichen Konsequenzen – anonym.
Biden will Zugang zu Abtreibungen sichern
US-Präsident Joe Biden möchte den Zugang zu Verhütungsmitteln und medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen sicherstellen.
© Quelle: Reuters
„Eine Lüge“, behauptet der Republikaner Jim Jordan
Doch statt dem Verbrechen nachzugehen, brüstete sich der republikanische Generalstaatsanwalt von Indiana, Todd Rokita, vor seinen Anhängern, er lasse prüfen, ob die Gynäkologin gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen habe. Sein Kollege und Parteifreund Yost aus Ohio wiegelte ab, von den Polizeibehörden habe er nicht einmal „ein Flüstern“ über einen solchen Fall gehört. Bald darauf sprach die rechte Kolumnistin Megan Fox von einer wahrscheinlich unwahren „viralen Horrorstory“.
Beim rechten Sender Fox News überschlugen sich – gepaart mit Angriffen auf die Glaubwürdigkeit der „Abtreibungsaktivistin“ Bernard – die immer lauteren Zweifel an der Wahrheit der Geschichte. „Ich finde es unerhört, dass sie so etwas einfach erfinden“, empörte sich die bekannte Fox-Moderatorin Emily Campagno in ihrer Sendung. „Eine Lüge. Wundert das irgendjemand?“, twitterte der republikanische Kongressabgeordnete Jim Jordan, ein enger Vertrauter von Ex-Präsident Donald Trump.
Selbst das in seinem Nachrichtenteil seriöse Wirtschaftsblatt „Wall Street Journal“ beteiligte sich auf seinen Kommentarseiten an der Stimmungsmache. „Eine Abtreibungsgeschichte, die zu gut ist, um bestätigt zu werden“, überschrieb die Meinungsredaktion am Mittwoch süffisant ihren Leitartikel, in dem sie über „allerlei fantasiereiche Geschichten“ fabulierte, die im Netz verbreitet würden. Den Bericht über die Vergewaltigung der Zehnjährigen nannte sie „unwahrscheinlich“. Er stamme von einer „parteiischen Quelle“ und stütze „das linke Narrativ“. Amerika erwarte von seinem Präsidenten etwas anderes, als dass er mit solchen Erzählungen den Zorn im Land weiter befeuere, monierte der Kommentar.
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Nur Stunden später wurde in Columbus, der Hauptstadt des Bundesstaats Ohio, ein 27-jähriger Mann dem Richter vorgeführt, der nach Behördenangaben die Vergewaltigung der Zehnjährigen gestanden hatte. Bei der Verlesung der Anklage im Gericht war nach Zeugenaussagen nur eine Journalistin im Gerichtssaal – die Reporterin des „Columbus Dispatch“, einer Schwesterzeitung des „Indianapolis Star“. Deren Geschichte erwies sich damit als zutreffend.
Am Donnerstag brachte das „Wall Street Journal“ daraufhin eine lauwarme Richtigstellung: „Es hat den Anschein, dass Präsident Biden akkurat war.“ Trump-Freund Jordan löschte eilig seinen „Lügen“-Tweet. Generalstaatsanwalt Jost meldete triumphierend die Festnahme des Vergewaltigers.
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Mit einem Innehalten oder Nachdenken der rechten Trump-Anhänger und fanatischen Abtreibungsgegner ist nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Sie haben gleich ihr nächstes Thema gefunden. Der Täter soll nämlich kein US-Bürger gewesen sein. „Die wirkliche Geschichte ist ein abscheuliches Verbrechen von einem illegalen Migranten“, sagte der Abgeordnete Jordan dem Sender CNN: „Ich hoffe, das wird mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft.“
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