Olivia Jones: „Im Moment fehlt mir mein Lebenselixier“
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Dragqueen Olivia Jones.
© Quelle: picture alliance/dpa
Hannover. Dragqueen, Dschungelcamp-Teilnehmerin, Unternehmerin: Olivia Jones (51) hat in den vergangenen Jahren einiges erlebt. Nun ist die Hamburger Kiez-Ikone unter die Autorinnen gegangen und hat ihre Autobiografie veröffentlicht („Mein schrilles Doppelleben“ erscheint am Mittwoch bei Rowohlt). Darin geht’s unter anderem um das Aufwachsen als schriller Vogel in einem Dorf in Niedersachsen, den steinigen Weg vom verstoßenen Familienmitglied zur Unternehmerin mit knapp 100 Angestellten und ihr Engagement für Vielfalt und Toleranz.
Frau Jones, warum feiern die Leute eigentlich so gerne in Ihren Hamburger Läden – mittlerweile sind es fünf auf St. Pauli?
Jeder Club, jede Bar hat ein anderes Konzept – das ist unser Erfolgsrezept. Wir haben gutes Entertainment, bei uns treffen sich Leute aller Altersklassen und aller Art. Ich sage immer, wir betreiben kreativen Denkmalschutz, wollen das alte St. Pauli aufrechterhalten und trotzdem auch ein Stück weiterentwickeln. Wir waren die Ersten, die den Schlager zurück auf die Große Freiheit geholt haben, haben Burlesque eine eigene Bühne eröffnet, haben als erste Menstrip nur für Frauen angeboten, damit auch mal Männer das Sexobjekt sind, und haben wieder ein abgefahrenes Showtheater auf der Großen Freiheit hochgezogen, nach dem alle anderen längst dichtgemacht hatten.
Mit feiern ist derzeit ja nicht viel. Sie schreiben im Buch: „Auch mein Leben stand lange still.“ Was macht die andauernde Corona-Pandemie mit Ihnen?
Im Moment fehlt mir mein Lebenselixier. Die Bühne, die Show. Wir Künstler ziehen unsere Energie aus dem positiven Feedback unserer Gäste. Nun sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Und wenn ich mein St. Pauli so verrammelt und verriegelt sehe, sorge ich mich massiv um die Vielfalt auf dem Kiez. Wir haben auch zu kämpfen, werden aber irgendwie mit zwei blauen Augen davon kommen. Aber für viele andere kleine Bars, Clubs, Restaurants und Geschäfte wird es schwer.
Was würden Sie anders machen als die Politik?
Ich gehöre zu den Leuten, die in diesen Tagen auf gar keinen Fall Politiker sein wollen. Allerdings wünsche ich mir von der Politik, dass sie uns als mündige Bürger einstuft. Es müsste viel mehr ausprobiert und gewagt werden. Ich kann nicht nachvollziehen, dass Außengastronomie immer noch keine Thema ist und keine Stadtführungen erlaubt werden, obwohl schon zig Experten gesagt haben, dass im Freien kaum Ansteckungsgefahr herrscht. Sobald der Sommer kommt, brauchen wir neben Tests auch mehr Modellprojekte. Sonst treffen sich die Leute heimlich hinter verschlossen Türen, und da lauert nachweislich die größte Ansteckungsgefahr. Leben heißt ja nicht nur am Leben zu bleiben, sondern auch das Leben zu genießen. Bei einem Käffchen am Kröpcke zum Beispiel. So werden alle in Innenräume getrieben. Das ist doch kontraproduktiv!
Wenn Sie an Ihre Jugend in Springe in der Region Hannover zurückdenken, was für Gefühle kommen da in Ihnen hoch?
Gute wie schlechte. Heute bin ich gerne in Springe. Nicht nur, wenn ich dort meine Mutter besuche. Zu den schlechten Erinnerungen gehören meine Probleme, die ich als Jugendlicher mit meiner Familie und meinem Umfeld hatte. Das waren schon sehr einsame und schwere Zeiten. Allerdings haben mich die Steine, die mir in den Weg gelegt worden sind, zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich bin sehr froh und stolz, meinem Herzen gefolgt zu sein und so mein Glück gefunden zu haben.
Schlechte Erinnerungen haben sich bis heute eingebrannt: Wenn Sie am Springer Bahnhof ausgestiegen sind, um Ihre Mutter zu besuchen, fühlten Sie sich nicht wirklich wohl. Wieso?
Dieses komische Gefühl war bezeichnend, ich konnte es mir lange Zeit nicht erklären, wo es herrührte. Bis mir klar wurde, woher die Ängste kamen. Dort bin ich bedroht, angegriffen und verfolgt worden. Ich habe das Ganze deswegen erwähnt, weil ich zeigen wollte, was Mobbing, Intoleranz und Ausgrenzung bewirken kann.
Zum Beispiel?
Dass die Suizidrate bei homosexuellen Jugendlichen größer ist als bei heterosexuellen zum Beispiel. Einen Skinhead, der mich damals attackiert hatte, habe ich übrigens Jahre später in einer Berliner Schwulenbar getroffen. Er hat sich entschuldigt.
Wären die Bahnhofserfahrungen nicht Anlass genug, mal endlich den Führerschein zu machen?
Nee, ich brauche ja keinen. Ich lebe und arbeite auf St. Pauli, kann alles zu Fuß erreichen. Das ist in Springe auch nicht anders (lacht).
„Ich wollte mein Leben so leben, wie ich es für richtig hielt, es schadete ja niemandem oder ich tat nichts Illegales, indem ich meine Träume verfolgte.“ Sind solche Gedanken Anlass gewesen, das Kinderbuch „Keine Angst in Andersrum“ zu schreiben?
Ich habe festgestellt, dass Kinder keine Intoleranz kennen. Wenn, dann ist es eine anerzogene. Man kann Kindern sehr wohl zeigen, dass die Welt nicht untergeht, wenn zwei Frauen oder zwei Männer sich lieben. Im Buch ist auch in keiner Weise von Sexualität die Rede, sondern von Liebe. Und Liebe ist doch eine schöne Sache.
Apropos schreiben: Wie aufreibend war es, für Ihre Biografie in Ihrer Vergangenheit zu wühlen?
Aufwühlender, als ich dachte. Ängste, Einsamkeit, Existenzängste – darüber zu schreiben war wie eine Therapie. Es war mir wichtig, mich damit auseinanderzusetzen und Dinge zu hinterfragen. Jetzt weiß ich, wie schwer es für meine Mutter gewesen ist, am Pranger zu stehen. Von meiner Oma und der Nachbarschaft gesagt zu bekommen, dass sie doch an meiner Erziehung etwas machen soll und dann würde das schon. Ich habe mal intensiv die andere Seite betrachtet. Und mir ist vieles bewusst geworden, was ich bis dato verdrängt hatte.
Was Ihren Tod betrifft, hoffen Sie auf einen Zeitpunkt, zu dem Sie alles ausgekostet und keine Wünsche mehr haben. Welche gibt es da noch?
Es gibt den gesellschaftlichen Wunsch, dass es keine Schlagzeile mehr ist, wenn ein Profifußballer sich als schwul outet. Ansonsten würde ich mich freuen, mal den Papst zu treffen und mit ihm über die Rolle der Frau und Homosexualität zu sprechen. Ansonsten lautet mein Motto: Leb so, wie du bist, und lass dich nicht beirren. Gottseidank habe ich das sehr früh für mich erkannt, dass ich auf dem Sterbebett nichts bereuen muss.
Sie schützen Oliver durch das Ausleben von Olivia, Fotos ohne Schminke und Fummel gibt es kaum. Warum haben Sie Ihre Enttarnung mit der Teilnahme im Dschungelcamp riskiert?
Weil mich das Dschungelcamp unfassbar gereizt hat. Ich war damals die einzige Teilnehmerin, die sich für das Format mehrfach beworben hat und nicht vom Sender gefragt wurde. Ich liebe Trashsendungen einfach. Und am Ende war es ein Karrierebooster, die Show hat mich auf ein anderes Level gebracht. Und ich hatte ja meine Perücke, Restschminke und diesen bescheuerten Badeanzug, ich war Olivia. Aber es stimmt schon, ich schätze mein wunderbares Doppelleben, kann dank Oliver komplett privat sein. Ich brauche diese Aufmerksamkeit nicht 24 Stunden am Stück.
Sie sagen, Oliver ist mit Olivia zusammen. Schade, dass da kein Platz für eine Partnerschaft ist, oder?
Das ist schon schade. Aber das ist auch der Preis dafür, vollkommen frei zu sein und mich so ausleben zu können, wie ich das möchte. Ich lebe das Leben einer Fledermaus: Tagsüber schläft sie, nachts ist sie aktiv. Das ist auch nicht jedermanns Sache. Olivia nimmt sehr viel Zeit in Olivers Leben in Anspruch. Dazu Deutschlands schrillste Patchworkfamilie: die Olivia-Jones-Family. Aber ich bin offen für alles – wenn ich mich verliebe, dann will ich mir nicht selbst im Weg stehen.
Sie haben das „Wort zum Sonntag“ mit Pastorin Annette Behnken gehalten. Sie ist die Schwester von Jan-Henrik Behnken, dem Ex von Bettina Wulff, die immer noch mit Christian Wulff verheiratet ist. War der ehemalige Bundespräsident mal in einem Ihrer Läden?
Das ist die Schwester? Das wusste ich bis jetzt gar nicht! In meinen Läden habe ich Christian Wulff noch nicht gesehen, ihn aber oft getroffen. Ich fand lustig, dass er mal im Scherz gesagt hat: „Hamburg brüstet sich zu Unrecht mit Ihnen.“ Er hätte mich wohl gerne als Hannoveranerin gehabt.