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Die erstaunliche Geschichte von Union Berlin

Geld oder Liebe: Zerstört der Einstieg von Investoren die Fußballtradition?

Die „Alte Försterei“: die Fans von Union Berlin in ihrem Heimstadion.

Die „Alte Försterei“: die Fans von Union Berlin in ihrem Heimstadion.

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Wenn Ali den Arm hebt, schweigen 8000 Menschen. Der Capo, der Vorsänger von Union Berlin, steht auf seinem rotweißen Stahlgerüst auf der „Waldseite“ des Stadions an der Alten Försterei, das Megafon in der Hand. Er tanzt, er dirigiert, er arbeitet. Capo zu sein ist eine eigene Kunstform. Dann senkt er die Hand, und der Chor schwillt an: „Eisern Union, immer wieder Eisern Union!“, singen die Fans, die Vereinshymne aus der Feder von Punkikone Nina Hagen. Und vor allem eine Zeile donnern sie stolz in den Köpenicker Nieselregen hinaus: „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union!“

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Bundesliga-Alltag. Der VfL Bochum ist zu Gast. Es riecht nach Bratwurst und Zigarettenrauch. Ein Heimspiel von Union fühlt sich an wie die XXL-Ausgabe eines Kreisliga-Spiels. Dann das 1:0 für Union. Im legendär verratzten Ziegeltürmchen in der Stadionecke wechselt der Spielstandsbeauftragte die analogen Zahlentafeln aus. Sie lieben diese Anachronismen. Und wenn ein Spieler eingewechselt wird, erscheint auf der Anzeigetafel das Ost-Ampelmännchen.

Echte Handarbeit: Der Spielstand im Stadion von Union Berlin wird per Hand aktualisiert.

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2 Milliarden Euro für Profiklubs

Am Ende steht es 1:1, aber es geht um mehr als Ergebnisse hier in der seltsamsten Arena der Bundesliga. Es geht darum, sich als rustikaler Underdog zu fühlen, der die Großen piesackt und sich auf handgeschraubten Tribünen heiser singt. Anderssein gehört zur Vereinsfolklore. Die Geschichte, die sie hier gerne erzählen, geht so: Drüben, im Süden und Westen des Landes, arbeite das geldbesoffene Fußballestablishment an der Zerstörung des Fußballs, all die Kahns und Rummenigges und die katarischen Bösewichte – hier sind wir, der ehrliche Malocherklub aus dem Osten. Man sieht sich gern als Stachel im Fleisch der Etablierten. Vor Jahren spendeten Fans bei der Aktion „Bluten für Union“ gar massenhaft Blut, um den damals siechen Patienten, der fast pleite in der Viertklassigkeit herumdümpelte, am Leben zu erhalten. (In Wahrheit ging es damals auch darum, mit einer cleveren PR-Aktion Sponsoren zu locken.)

Final Four of the Kings League held at the Spotify Camp Nou with an absolute sellout and a huge record of attendance live and on social networks. Barcelona March 26, 2023 In picture: fans at Spotfy Camp Nou Rostros conocidos asisten a la Final Four de la Kings League celebrada en el Spotify Camp Nou con un lleno absoluto y un enorme record de asistencia en vivo y en redes sociales. Barcelona 26 de Marzo de 2023. 900/Cordon Press *** Final Four of the Kings League held at the Spotify Camp Nou with an absolute sellout and a huge record of attendance live and on social networks Barcelona March 26, 2023 In picture fans at Spotfy Camp Nou Familiar faces attend the Final Four of the Kings League held at the Spotify Camp Nou with an absolute sellout and a huge record of attendance live and on social networks Barcelona March 26, 2023 900 Cordon Press PUBLICATIONxNOTxINxFRAxESPxITA 900/CordonxPress LOF - King League

7er-Fußball als actionreiche Alternative – ist das genial oder gaga?

7er-Fußball mit Zeitstrafen und Actionkarten – mit der Kings League hat Ex-Barça-Profi Gerard Piqué ein Projekt ins Leben gerufen, das mit veränderten Regeln das Spiel kurzweiliger machen soll. Bei der jungen Zielgruppe kommt die Idee überragend an.

Doch Union steht eben auch symbolisch für den Scheideweg, an dem sich der deutsche Fußball befindet. Wie passen Proletarierstolz und Investorenmillionen zusammen? Die Deutsche Fußball Liga (DFL) wollte sich für Investoren öffnen. Der Plan sah vor, dass ein Investor für eine Laufzeit von 20 Jahren 12,5 Prozent an der Medienvermarktung der Bundesliga erwerben darf. Der Liga hätte dieser Deal frisches Kapital von rund 2 Milliarden Euro eingebracht.

Das Geld wäre zu 85 Prozent zweckgebunden gewesen – für Investitionen auf „Zukunftsfeldern“ sowie „die Stärkung der Stabilität der DFL“. Nur 15 Prozent, also rund 300 Millionen Euro, sollten unter den 36 Klubs zur freien Verwendung aufgeteilt werden. Die Fans liefen seit Wochen Sturm gegen die Pläne. Eine breite Front von Vereinen aus der 3. Liga drohte mit dem Kartellamt. „Die Informationslage ist sehr unbefriedigend und unübersichtlich“, sagte Ronny Maul, Geschäftsführer des SV Meppen. Am Ende scheiterte der DFL-Plan: eine Mehrheit der Profiklubs stimmte dagegen.

Investoren sind Sündenfall für Fanvertreter

Das letzte Wort freilich ist gewiss noch nicht gesprochen. Millionen Fans fürchten, dass früher oder später auch der hiesige Fußball von Schurkenkapital vergiftet werden könnte. Markus Sotirianos etwa, Vorstandsmitglied beim Fanbündnis Unsere Kurve, stellte in der Debatte um den Investoreneinstieg eine grundsätzliche Frage: „Wie soll verhindert werden, dass die Schere zwischen großen und kleinen Klubs und zwischen den Ligen weiter auseinandergeht?“

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Die fußballerische Gigantomanie und die zunehmende Herzlosigkeit der europäischen Scheichvereine wie Paris Saint-Germain oder Manchester City spielt Union Berlins sympathischer Erzählung vom Kampf des rotzcoolen David gegen die stinkreichen Goliaths in die Hände. Seht her! Ein Langzeitpräsident, der als Knirps auf der Tribüne sang! Schlaue Spielerbeobachter rund um Chefeinkäufer Oliver Runert, die für vergleichsweise kleines Geld aus ungeschliffenen Diamanten eine eingeschworene Truppe kreieren. Loyalität als Treibstoff! Auf der Tribüne rauchen sie sogar. Wie früher. Und nach dem Abstieg von Erzrivale Hertha BSC in die Zweite Liga ist Union jetzt der einzig wahre Hauptstadtklub. Es läuft.

Seit dem Aufstieg 2019 landete das Team in jeder Saison weiter oben: Erst auf Platz elf, dann folgten die Plätze sieben, fünf und vier. Aktuell steht die Mannschaft vor dem letzten Spiel erneut auf Platz vier, punktgleich mit dem SC Freiburg. Dessen Trainer Christian Streich lobte Union als „die defensiv best­or­ga­ni­sierte Mann­schaft der Bun­des­liga“. Zum Saisonfinale kommt am Sonnabend Werder Bremen nach Köpenick. Für Union ist der Plan bereits übererfüllt. Es geht nur noch um die Frage, wie groß die europäische Bühne wird: Champions League oder Europa League?

Mit geringem Etat das Kunststück Bundesliga bewältigen

Mit einem Etat, der sich im unteren Drittel der Liga einordnet, sportlich dauerhaft im oberen Drittel der Liga mitzumischen – das ist ein Kunststück, das international Anerkennung findet. Den größten Anteil daran hat Trainer Urs Fischer. Sein Rezept: das richtige Mischungsverhältnis aus Disziplin und langer Leine – plus Zeit. „Wir sind Men­schen, keine Com­puter“, sagte er dem Magazin „11 Freunde“. „Der Com­puter läuft so, wie du ihn pro­gram­mierst, das ist bei Men­schen nicht mög­lich. Da brauchen Entwicklungen ihre Zeit.“ Träumen, sagt der Schweizer Übungsleiter, könne Kräfte freisetzen. „Nur darf das keinen Ein­fluss auf unsere Arbeit haben.“

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Dem Überraschungsverein der letzten fünf Bundesliga-Jahre fliegen auch deshalb die Herzen zu, weil sein Höhenflug – ähnlich wie im Fall St. Pauli oder Freiburg – als Gegenerzählung zu allem taugt, was am Fußball seit Jahren schiefläuft. Da darf es in der Hymne ruhig ein bisschen pathetisch zugehen („Damals, als der Durchhaltewillen der Schlosserjungs aus Oberschöneweide ins Unermessliche stieg …“).

Wer jemals das Weihnachtssingen von 25.000 Menschen im Stadion verfolgte, irgendwo zwischen Kirchentag und Montagsdemo, der wird sich schwertun, etwas Unredliches auszumachen. „Für britische Zuschauer“, bemerkte Sky London in einem großen Union-Porträt, „fühlt sich Union an wie eine andere Welt. Es ist wie ‚You’ll never walk alone‘ – aber in jeder einzelnen Minute des Spiels.“

Natürlich ist auch gesunder Trotz im Spiel

Vereine brauchen eine Geschichte. Eine markenbildende Legende. Und die Story des alten Ostvereins Union, 1966 hervorgegangen aus dem Traditionsklub SC Union Oberschöneweide, ist eine universale Gutes-Gewissen-Geschichte, in der sich eben nicht nur Köpenicker Fans wiederfinden. Natürlich ist auch gesunder Trotz im Spiel. Gegen den Stasiklub Dynamo Berlin. Gegen die Großmannssucht der Herthaner, dieses gescheiterten „Big City Clubs“. Viele Klubs der Topligen fremdeln mit dem Fantum, hadern mit den Zaunkiekern, Kuttenträgern, Traditionalisten. Nicht so Union. Dass Langzeitpräsident Dirk Zingler, seit 2004 am Ruder, auch die ganz miesen Zeiten erlebt hat, hilft gewiss bei der Bodenhaftung.

Die gemütliche Schlosserjungsromantik freilich, die der Verein so gern ausstrahlt, ist nur ein Teil der Story. Schon Ende der Neunzigerjahre rettete der Medienunternehmer Michael Kölmel als millionenschwerer Investor den klammen Klub. 2016 dann, drei Jahre vor dem Aufstieg in die erste Bundesliga, schloss der Verein einen Vertrag mit dem Luxemburger Investmentfonds Quattrex. Es wundert kaum, dass Zingler – anders als die satte Mehrheit der Fans selbst – in Investorengeld im Prinzip kein Teufelszeug sieht.

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Einige der Megastars des Sports sind an einem kritischen Punkt ihrer Laufbahn angekommen.

LeBron James und die Megastars des Sports: Eine Generation steht am Wendepunkt

Nach dem Ausscheiden aus den NBA-Play-offs hat Basketball-Superstar LeBron James die Fans mit Andeutungen über ein mögliches Karriereende schockiert. Der Basketballer ist nicht der Einzige aus der Riege der Megastars, bei dem die Laufbahn an einem kritischen Punkt angelangt zu sein scheint.

Die Frage wird nur sein, wie „Eberswalder Heimwurst“ und all die Millionen zusammenpassen. Was passieren wird, wenn immer mehr Fernsehgeld den Köpenicker Kuschelklub flutet. Und ob ein Verein zwangsläufig seine Seele verkaufen muss, um oben mitspielen zu können. Wie Manchester United, wo man im Stadion zuletzt zugunsten größerer Werbebanden 4000 Schalensitze abschraubt hat, weil es mehr Geld einbringt als Tickets.

Zweifellos würde man in Köpenick einen interessierten Scheich mit einem 60er-Maulschlüssel in der Faust in die Flucht schlagen. Noch taugt Fußball hier als sinnstiftendes Gemeinschaftserlebnis, als Herzensding, als Identitätsquell einer Region. Am Ende ist aber auch Union ein Millionenunternehmen der Unterhaltungsbranche.

„Vermögen wird enorm wachsen in nächster Zeit“

Gut 50 Millionen Euro nahm der Verein in der Vorjahressaison durch TV-Gelder ein, insgesamt waren es 122 Millionen, mehr als jemals zuvor. „Unser Ver­mögen wird enorm wachsen in nächster Zeit“, sagt der zustän­dige Geschäfts­führer Oskar Kosche, der in den Neunzigerjahren im Tor des Vereins stand. Der Gewinn betrug knapp 13 Millionen Euro. Das ist weit weniger Geld als die 374 Millionen Euro, die der Unternehmer Lars Windhorst in die Hertha pumpte. Aber dafür ist das Geld noch da. Anders als Windhorsts Millionen. Oder Windhorst selbst.

Die Alte Försterei in Berlin soll von 22.000 auf 37.000 Plätze vergrößert werden, so der Plan.

Die Alte Försterei in Berlin soll von 22.000 auf 37.000 Plätze vergrößert werden, so der Plan.

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Bis 2025 will Union das Stadion von Grund auf erneuern – und von 22.000 auf 37.000 Plätze vergrößern. Die Tribüne, die „eiserne“ Fans in der Saison 2008/2009 in freiwilliger Eigenarbeit renovierten, werde „aus statischen und bautechnischen Gründen“ nicht zu retten sein, sagte Präsident Zingler. Mehr als 2300 Fans leisteten damals 140.000 Arbeitsstunden. „Das neue Stadion werde eines der modernsten und schönsten Sta­dien in Europa sein.“

Herzkammer des fußballerischen Widerstands

Ob der Neubau weiterhin als Herzkammer des fußballerischen Widerstands gegen den Ausverkauf taugt, ist offen. Bis zur geplanten Fertigstellung 2025 zieht Union ins Olympiastadion um – in die Heimstätte des Zweitligisten Hertha. Geplant ist ein sportkultureller Spagat: Das „Jahrhundertprojekt“ soll den Verein in eine „neue Dimen­sion“ (Zingler) kata­pul­tieren – ohne ebenfalls eine seelenlose Kommerzarena zu werden.

Das Spiel gegen Bochum ist zu Ende. In der Alten Försterei singen sie, dirigiert vom Capo Ali: „FC Union, unsere Liebe, unsere Mannschaft, unser Stolz, unser Verein, Union Berlin!“ Noch funktioniert die Erzählung vom fröhlichen Vintageverein. Gegen das Neureichentheater. Gegen den Verkauf der guten Sitten. „Allet jut“, sagt ein Unioner und beißt in seine Bratwurst. Ob freilich allet jut bleibt in Köpenick, steht in den Sternen.

Der Text ist nach der DFL-Entscheidung gegen einen Einstieg von Investoren aktualisiert worden.

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